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Würde - Roman

Titel: Würde - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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ernst sie meinte, was sie sagte.
    »Ihr begreift nicht, wie gut es euch geht. Ihr habt Strom, den man abschalten kann. Ihr habt Richter, deren schlimmste Vergehen darin bestehen, dass sie zu viel trinken. Ihr habt die Möglichkeit, korrupten Politikern das Handwerk zu legen. Und ihr habt Journalisten, die von all dem berichten. In vielerlei Hinsicht seid ihr noch immer eine Kolonie, eine naive, kindliche Nation. Sobald eine winzige Schwierigkeit auftaucht, seid ihr völlig durcheinander. Sofort wird verkündet, dass das Ende bevorsteht, dass euer Land in Gefahr ist, in afrikanischem Chaos zu versinken.«
    Richard fand Abayomis Art erfrischend. Gleichzeitig spürte er, dass sie ihn auch persönlich angriff, und das ließ ihn vorsichtig sein.
    »Ich sage dir, was echtes Chaos ist«, fuhr sie fort. »Lass mich dir von meiner armen, schönen, leidenden, schrecklichen Heimat erzählen. Wole Soyinka nennt unser Land ›die offene Wunde Afrikas‹. Und damit liegt er nicht falsch. In Europa bewundern sie die Musik von Sade und die Bücher von Ben Okri. Aber bei uns zu Hause gibt es nichts außer Chaos und Egoismus.«
    Sie schilderte die ärmeren Viertel von Lagos. Dort gab es keine Baupläne, keine Behörden, die den Leuten sagten, was und wie
sie bauen sollten. Niemand passte auf, niemand kümmerte sich darum. Slumhütten drängten sich zwischen Häuser und kleine Betriebe. Die Bewohner dieser Gegenden atmeten den Rauch der Metallarbeiten ein, die auf den Hinterhöfen ausgeführt wurden, und Kinder planschten in den Abwässern von Gerbereien und illegalen Metzgereien. An einigen Stellen war das Straßenpflaster schwarz vom getrockneten Blut des Schlachtviehs. An den Ecken stapelte sich der Müll und der Dreck. Manchmal war der Gestank der Leute, die dort alle zusammen lebten und arbeiteten, unerträglich. Die Luft schien giftig vor Schweiß zu sein. Das Problem waren die Hitze und die ständige Feuchtigkeit, die in Lagos herrschten.
    »Ihr würdet diesen Ort als Hölle bezeichnen. Aber in Lagos sind alle ständig in Bewegung. Man ruft, lacht, flucht, drängelt. So sind wir in Nigeria: Wir kämpfen - mit einem Lächeln oder einem Fluch auf den Lippen - um ein wenig mehr Platz.«
    Die Autos kamen in Lagos kaum von der Stelle, erzählte sie weiter. Die schmalen Straßen überkreuzten sich willkürlich, und an den Straßenrändern standen überall Händler. Die Ampeln funktionierten nicht, und die Leute liefen genauso selbstverständlich mitten auf der Fahrbahn wie auf den kaputten Bürgersteigen. Taxis hupten und drängelten mit offenen Türen. Fußgänger sprangen hinein oder fielen heraus, aber die Taxis hielten nie an.
    »Dann sieht man plötzlich einen großen schwarzen Mercedes. Er schiebt sich wie ein mächtiger Löwe durch den Verkehr, zwingt andere Autos beiseite, drängt die Menschen mit der Kühlerhaube vor sich her und hupt wie wild, um durchzukommen. Die Leute verkaufen alles: Obst und Fleisch und Körbe, Schmuck, Radios, billige Drogen, fremde Währungen, chinesische Importware. Es gibt keinen Schwarzmarkt, weil es gar keinen offiziellen Markt gibt. Wenn nichts legal ist, kann auch
nichts illegal sein. In Nigeria ist alles möglich. Und keinen kümmert das, niemand achtet darauf. Jeder Politiker ist dort korrupt - ebenso jeder Offizier, jeder Beamte. Alle sind bestechlich. Manche halten ihr Versprechen, andere aber nicht. Das Leben ist ein verzweifelter Kampf, hart und schmutzig. So ist Nigeria. So ist mein Volk geworden.« Abayomi griff nach ihrer Tasche, um zu gehen. »Die Seele meines Landes ist durch und durch verfault.«
    Richard betrachtete sie verwundert. Als sie ihn anblickte, wirkte ihre Miene traurig. »Deshalb dürft ihr uns nicht verurteilen, wenn wir dieser Hölle entrinnen wollen. Wenn wir hierherkommen und jede Gelegenheit beim Schopf packen. Und wenn wir mit euch in Wettstreit treten, um unser Leben zu verbessern. Ihr seid daran gewöhnt, alles zu bekommen, was ihr wollt. In Nigeria haben wir gelernt, dass Überleben bedeutet, sich alles zu nehmen, was man bekommen kann.«

10
    Richard fuhr rückwärts aus der Doppelgarage. Die vertraute Straße aus roten Ziegeln, über die seine breiten Reifen rollten, beruhigte ihn. Es war ein klarer warmer Morgen, der die Verwirrungen der letzten Tage fast ein wenig lächerlich erscheinen ließ.
    Eine Zeit lang hatte ihn das Treffen mit Abayomi bedrückter gestimmt, als er es zuvor gewesen war. Er hatte sich mit Nadine im Büro gestritten, während Amanda

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