Wuestenmond
bedeutungslos, überflüssig, in gewisser Weise unwirklich. Die Wirklichkeit war hier. In mir hatte ich ein Geheimnis bewahrt, das geheimnisvolle Dunkel der Welt, der ich entstammte. Ich kam aus der Wüste; und die Wüste, schillernd wie ein Libellenflügel und bedrohlich wie der Tag des Jüngsten Gerichtes, war überall, wo auch ich war. Die Wüste wuchs in meiner Wahrnehmung, bis jeder Tropfen Blut davon erfüllt war. Vergangenheit, Zukunft, alles war in mir enthalten. Im Jetzt. Ich konnte davon träumen, wann immer ich wollte. So war es.
Etwas später brachte der Junge ein Becken und einen Wasserkrug, damit wir uns die Hände waschen und den Mund spülen konnten.
Dann trug er ein Holzgefäß herein, in dem ein Hirsegericht dampfte.
Jeder erhielt einen Löffel, den wir in den Hirseberg steckten. Traurig dachte ich, daß das Vieh das einzige Vermögen des Klans darstellte und sie heute ein Tier für uns geopfert hatten. Nach Art der Tuareg verteilte Sakina das Fleisch, indem sie kleine Stückchen mundgerecht in die Höhlung des Löffels warf. Die Hirse war dürftig angerichtet; es gefiel mir nicht, daß Sakina für Elias und für mich die saftigsten und zartesten Fleischstückchen aussuchte; doch wir mußten es annehmen, denn für die Gäste war nur das Beste gut genug. Selbst die Ärmsten gaben das wenige, das sie hatten. Es abzulehnen wäre einer Beleidigung gleichgekommen.
Nach dem Essen, als die Besucher einer nach dem anderen die Seriba verließen, setzte Sakina sich zu mir, nahm meine beiden Hände, sprach liebevoll und eindringlich auf mich ein:
»Du kommst aus einem fernen Land, und vieles ist dir fremd. Aber ich weiß, du spürst die Dinge mit dem Herzen. Du bist in einer Zeit gekommen, in der Altes abgeschafft und Neues eingeführt wird. Es ist unser Wunsch, die Vergangenheit vor deinen Augen aufleben zu lassen, bevor sie für immer verschwindet. Früher war es Brauch, wenn Gäste in ein Lager kamen, daß die Reiter ihre Kamele zum Klang der Trommeln tanzen ließen.« Sie drückte meine Hände mit kräftigem Griff. »Es soll wie früher sein. Hannon und ich bestehen darauf. Du wirst es sehen. Morgen.«
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31. Kapitel
F liegen, die hartnäckig um mein Gesicht summten, weckten mich.
Ich öffnete blinzelnd die Augen. Die Sonne schien hell durch das Schilf. Hannon und Sakina hatten darauf bestanden, daß wir in ihrer Seriba schliefen; wir hätten lieber die Nacht in der freien Natur, abseits des Lagers, verbracht, hatten jedoch aus Höflichkeit ihr Angebot angenommen. Wir hatten in einem Sammelsurium aus zerschlissenen Decken, alten Lederkissen und staubigen Teppichen geschlafen. Jetzt richtete ich mich auf und schüttelte mein Haar. Bei Tageslicht wurde das Kümmerliche der Einrichtung in allen Einzelheiten sichtbar. Sand kratzte auf meiner Kopfhaut; die Decke, in der ich eingewickelt gewesen war, hatte unangenehm gerochen.
Während ich die Hand nach meiner Tasche ausstreckte, bewegte sich ein Schatten am Eingang. Ein kleines Mädchen trat herein, schüchtern, vielleicht zehn Jahre alt. Ihr buntes Kleid war ausgefranst und der Ausschnitt zerrissen. Unter ihren Lederamuletten und der billigen Kette aus Glasperlen schimmerte die Haut zimtfarben und zart. Sie balancierte mit äußerster Behutsamkeit eine Plastikschüssel mit etwas sandigem Wasser, die sie auf dem Teppich absetzte. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht, dunkle Augen, sprühend vor Neugierde und Energie. Ihr Haar, in winzige Zöpfe geflochten, zeigte am Scheitel ein helles Kastanienbraun. Ich lächelte ihr zu.
» Tanemered – Danke.«
Das Mädchen lächelte strahlend zurück. Welche Zukunft hat sie?
dachte ich. Solange der Geist der Wüste und der Atem der Natur in ihr wohnten, war nicht alle Hoffnung verloren.
»Wie heißt du?« fragte ich.
» Tahenkot«, erwiderte das Mädchen. Von einer plötzlichen Scheu befallen, lief sie aus der Seriba. Tahenkot – die Gazelle, übersetzte ich mir ihren Namen. Jede Kultur, die ihre Eigenart und Willenskraft einbüßt, verfällt. Aber die Tuareg würden überleben. Selbst ihre Toten waren nicht machtlos. Die Toten? Ich lächelte vor mich hin. In Wirklichkeit gab es keinen Tod. Es gab nur einen Wechsel der Welten.
Durch den Eingang der Seriba sah ich ein Feuer brennen. Das Holz knisterte, und sein Rauch reihte Erinnerungen aneinander wie Perlen einer langen Kette. Einige Männer saßen im Kreis um die Glut. Elias 325
war aufgestanden, ohne mich zu wecken, und hatte sich zu ihnen gesellt. Ich
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