Wuestenmond
sie überleben, Elias?«
Er seufzte tief auf.
»Ich weiß es nicht. Es wäre besser, sie würde sterben. Aber die Mutter liebt ihr Kind…«
Wir schwiegen. Ich dachte über den Schmerz nach, und darüber, wie jeder von uns die Vergangenheit sah oder sehen wollte. Die Wand 329
zwischen Heute und Niemehr war hauchdünn und durchsichtig wie Glas. Und manchmal hielt die dahinfließende Zeit plötzlich an; sie schlug zurück, wie eine Spirale, und in dem Kristall der Erinnerungen nahmen Trugbilder Form und Farbe an. Sie kamen ans Licht und verblaßten, sie zogen sich wieder zurück, waren weg und verloren. Das Vergessen kam schnell. Aber wir weinten nicht um die dahingegangene Zeit.
Die Sonne wurde sanfter und die Hitze schwächer, als im Lager Stimmen und Gelächter ertönten. Ich richtete mich verschlafen auf, strich mein wirres Haar aus der Stirn. Elias faltete seinen Scbesch, zog den Schleier bis unter die Augen. Dann nahm er meine Hand und zog mich hoch.
»Komm!«
Wir schlüpften in unsere Sandalen und traten aus der Seriba. Die Stille hatte sich verwandelt; eine Art prickelnde Unruhe lag in der Luft. Die Nomaden standen in Gruppen zusammen, die zerlumpten Kinder liefen zwischen den Erwachsenen herum, hüpften und kreischten vor Freude. Elias streckte den Arm aus.
»Da kommen sie!«
Ich kniff die Augen zusammen. Am straffen, blaugoldenen Horizont erblickte ich eine Art rötlichen, sich langsam ausbreitenden Rauch.
Bald wurde eine undeutliche auf und ab schwankende Linie sichtbar.
Sie kam näher, nahm feste Formen an. Gebannt blickte ich den Reitern entgegen, die aus dem Hochtal wie aus dem fernen Himmel emporwuchsen. Mein erster Gedanke war: »Wenn ich das doch filmen könnte!« Doch es würde keine Regie geben. Es war meine Geschichte, die dort lebendig wurde, meine Vergangenheit, die sich mit Schatten und Schemen bevölkerte; sie spulte sich ab wie ein Film, aber nur für mich.
Bald wurden die Reiter in allen Einzelheiten sichtbar. Die Männer, weißgekleidet, trugen blaue und schwarze Kopfbedeckungen, Helm und Krone zugleich. Schwarze Baumwolltücher fielen in Falten auf Brust und Schultern. Die Frauen ritten – meist zu zweit – auf besonders geformten Sätteln. Ihre dunkelblauen und violetten Schleier blähten sich während des Trabes wie Blütenblätter im Wind, ihr Silbergeschmeide funkelte, und die zahllosen Glöckchen am Zaumzeug ihrer Mehara ließen bei jedem Schritt ein helles, rhythmisches Klingeln ertönen.
Meine Kehle wurde eng.
»Wie schön… wie wunderschön!« flüsterte ich bebend. »Dieser 330
Aufwand… wozu nur?«
»Weil sie dir eine Freude machen wollen, und weil es ihnen neue Lebenskraft schenkt. Sie brauchen das jetzt. Sieh nur, da kommt Hannon!«
Ich wandte den Kopf und glaubte zu träumen. Der Mann, der uns in ärmlicher Kleidung willkommen geheißen hatte, erschien jetzt von Kopf bis Fuß in indigoblauen Stoff gehüllt, der in der Sonne metallische Funken warf. Die in weiten Falten geraffte Pluderhose, weiß und rot gestreift, bauschte sich über den Fußknöcheln. Seine Kopfbedeckung war das Erstaunlichste, was ich je gesehen hatte: eine Art hohe Haube aus purpurner Wolle, einer Bischofsmütze ähnlich, mit herabfallenden Quasten und dreieckigen Silberamuletten geschmückt.
»Er trägt eine Takumbut, das Wahrzeichen seines Ranges!« hörte ich Elias überrascht sagen. »Ich wußte überhaupt nicht, daß er noch eine besitzt…«
Ich lächelte fast scheu, als Hannon die dunkel geschminkten Augen auf mich richtete. Ich wußte von Elias, daß sich in der Wüste Männer wie Frauen mit lichtschützendem Antimonschwefel schminken, der mit Hilfe einer kleinen Spachtel dicht am Wimpernrand aufgetragen wird. Keine Trauer mehr war in Hannons Blick, nur Verwegenheit, Kraft und der Stolz eines Königs vergangener Zeiten. Noch nie hatte ich bei einem Menschen eine Haltung gesehen, die mit der seinen vergleichbar gewesen wäre. Ich konnte nicht anders, als ihm sagen, wie schön ich ihn fand. Hannons Augen blitzten. Er lachte aus ganzem Herzen.
»Sakina hat mir gesagt: ›Warum trittst du mir täglich in Lumpen vor Augen? Heute kommen schöne junge Männer ins Lager. Geh und mach dich ansehnlich, oder ich suche mir einen anderen aus.‹«
Ich stimmte in sein Lachen ein, wenn auch halbherzig, denn meine Traurigkeit war nicht ganz zu überdecken; schon der leiseste Gedanke an morgen ließ sie wieder hervorbrechen.
Inzwischen hatten die Mehara den Lagerplatz erreicht, ließen sich
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