Wuestenmond
Und jedesmal war es das gleiche Bild: Wurde der Feind gemeldet, räumten alle Krieger die Zelte, ließen Frauen und Kinder schutzlos zurück! Die Franzosen verstanden das nicht. Sie waren verblüfft. Es sah aus, als ergriffen die Männer die Flucht. In Wirklichkeit lockten sie ihre Feinde vom Lager weg, damit die Frauen verschont blieben.
Und weißt du was, Tammy? Weil die Franzosen die Frauen mit Rücksicht behandelten, gewannen sie die Achtung der Tuareg. Aus Todfeinden wurden Freunde, weil die Franzosen sich galant zu den Frauen zeigten! Bemerkenswert, nicht wahr?«
Zutiefst zivilisiert jedenfalls, dachte ich. Und vielleicht einzigartig in der Weltgeschichte.
»… keine Ehre!« zischte Zara. »Amenena unterschätzte keineswegs die Gefahr, denke das ja nicht. Doch es war ihr Entschluß. Und wer kann eine Frau daran hindern, das zu tun, was sie will, hm? Sie hatte zu der Schlange gesprochen, und die Schlange hatte ihre Zustimmung gegeben.«
Ich sah ihr ins Gesicht; ich fand etwas darin, das ich nicht verstehen konnte. Mich erfaßte ein merkwürdiges Gefühl, eine ganz besondere Unruhe. »Wie meinst du das, Großmutter?«
Zara richtete ihre dunklen Augen auf mich; ihr Blick war geheimnisvoll, düster. Es war, als ob sie sich über mich klarwerden, mich sozusagen einschätzen wollte. Sekundenlang fühlte ich, wie sie durch mich hindurchblickte, als sei ich aus Glas. Auf einmal bewegte sich Lia, murmelte ein paar Worte. Ich sah sie neugierig an.
»Ja, was ist mit der Schlange?«
Doch Lia preßte die Lippen zusammen. Zara glättete ihren Schleier.
Das sei ein Brauch von früher, meinte sie.
Von nichts anderem sei hier die Rede. Mir war klar, daß sie darüber nicht sprechen wollte. Ich war etwas beleidigt, ließ es mir aber nicht anmerken.
»Und dann?«
Sie zuckte die Achseln.
89
»Aflane fügte sich. Er beauftragte Elias, Amenena in das Lager ihrer Eltern zu begleiten.«
Die Piste, die zum Lager führte, war unbefahrbar. Elias holte zwei Mehara von der Weide. Mutter und Sohn ritten von einer Wasserstelle zur anderen und erreichten endlich ihr Ziel. Doch im Bergland hatte der Krieg seinen Tribut aus Blut und Tränen gefordert. Die Mehrheit der jungen Leute hatte sich den Rebellen angeschlossen. Im Lager lebten nur noch wenige Menschen, krank, verkrüppelt und abgemagert bis auf die Knochen. Amenenas Mutter hatte die Blattern gehabt. Zwischen der Schicht von Schorf und Eiter sahen ihre Pupillen wie zwei weiße Steine aus. Der Vater hustete und spuckte Blut. Amenena weinte vor Entsetzen. Sie kannte alle möglichen Kräuter, Pflanzen, Blätter, Wurzeln und Körner, aus denen sie Medizin herstellte. Sie war sehr gut darin. Sie versuchte, die Schmerzen ihrer Eltern zu lindern. Doch es dauerte nicht lange, da brach im Lager ein Fieber aus. Das Quellwasser schmeckte schal und glänzte wie Ol. Die Menschen hatten schreckliche Schmerzen und mußten sich ständig übergeben. Amenenas Eltern konnten der Krankheit keinen Widerstand leisten. Binnen kurzem starben beide.
Elias sagte zu seiner Mutter: »Hier kannst du nicht bleiben. Komm, reite mit mir zurück!« Doch Amenena wollte alleine sein; sie sehnte sich nach Ruhe, wollte sich gegen einen Baum oder einen Felsen lehnen, um die Schwingungen der Erde zu spüren. Sie wollte in die Vergangenheit reisen und wach sein, wenn andere Menschen schliefen. Sie wollte im Dunkeln sehen und Träume erleben. Sie schickte Elias fort. »Geh! Ich habe hier alles, was ich brauche.«
Elias plagte sich mit der Sorge, daß seine Mutter in Gefahr war und daß sein Vater ihm Vorwürfe machen würde. Doch Amenena drängte ihn, das Lager zu verlassen, und gegen ihren Willen kam er nicht an. Die Seuche hatte Wasser und Erde vergiftet. Der Tod lauerte zwischen den Mattenzelten. Amenena sprach zu den Alten, erbat ihren Segen und erklärte ihnen, es sei unerläßlich, die Zelte und alle Gegenstände, die mit den Kranken in Berührung gekommen waren, zu vernichten. Danach wäre es gut, den Lagerplatz zu wechseln. Sie selbst würde in die Richtung ziehen, die die Sterne ihr angezeigt hatten. Die Alten beachteten ihren Rat, und Amenena tat, was sie beschlossen hatte.
So ließen sie die Feuer auflodern. Als der Wind die Asche verstreut hatte, bestieg Amenena ihre Kamelstute. Sie verließ die rauchenden Trümmer in Begleitung von Kenza, einem Hirtenmädchen, das sie 90
vom Fieber geheilt hatte. Kenza führte einen Esel, der ihre bescheidene Habe trug, und trieb einige schwarzbraune Ziegen vor
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