Wuestenmond
Reite zu deiner Mutter und tröste sie!‹ Er widersprach.
›Ich habe ihr nichts zu sagen. Sie weiß alles besser als ich.‹ Er war widerspenstig und zornig, und ich fand es am besten, daß er von Tarn fortgehen sollte. Und so sagte ich zu ihm, nicht ohne Schärfe:
›Sei still und achte auf das, was ich dir zu sagen habe. Du bist ihr 92
einziger Sohn, und sie ist in Trauer. Hast du kein Herz? Und was ist mit deinem Pflichtgefühl?‹ Da entschuldigte er sich und holte sein Mehari von der Weide.«
Zaras Gesicht zeigte plötzlich ein Lächeln.
»Auf seine Mutter wird Elias hören, so wie sein Vater es getan hat.
Elias gilt als Aflanes Nachfolger, mußt du wissen, auch wenn das noch keiner deutlich ausgesprochen hat. Aber heutzutage ist ein Mann, der sich der Wahrheit verschrieben hat, ein gefährdeter Mann.
Noch wenige Jahre, und sie werden ihn – auf welche Weise auch immer – aus dem Weg räumen wollen. So denken manche, und es ist ein tausendfacher Jammer, daß ich das noch erleben muß. Aber Geduld bringt einen besseren Tag. Und inzwischen erscheint es mir sinnvoll, daß Elias sich ruhig verhält.«
Sie lehnte sich erschöpft zurück und trank ihren Tee, wobei sie leise schmatzte. Ich starrte sie an. Das war also meine Großmutter, von der ich gedacht hatte, daß sie alt und weltfremd sei. Jetzt entdeckte ich, daß in dem zerbrechlichen Körper ein wacher, kämpferischer Geist lebte. Ihr Bericht widerlegte das Gefühl, das ich in meinem Herzen trug: daß die Tuareg am Ende ihres Weges waren, daß sie keine Zukunft mehr hatten. Nein, sie waren kein Volk, das Jahrtausende überlebt hatte, um nun auf immer zu verschwinden!
Während ich mit zunehmender Erregung meine Gedanken verfolgte, wandte sich Lia, die bisher wenig gesprochen hatte, an Zara. Dabei betrachtete sie mich, den Kopf zur Seite geneigt, wie ein neugieriger Vogel. Ich merkte, daß ihre Worte an mich gerichtet waren. Ihre Stimme war unschön und krächzend, aber von einer merkwürdigen Kraft. Zara übersetzte.
»Deine Tante Lia sagt, daß uns eine wichtige und schwierige Arbeit bevorsteht. Wir sind hungrig und krank. Ein Gleichgewicht wurde zerstört, aber noch ist nicht alles verloren.«
»Ach, glaubt sie das wirklich?« erwiderte ich lebhaft.
»Sie sagt, einst lebten wir im Osten und Westen, bis die Erde aufbrach und unsere Heimat im Meer ertrank. Unser Volk bewahrte weder Häuser noch Statuen – wir brauchten keine Erinnerungen. Wir sahen die Sterne und wußten, wer wir waren. Wir tragen ein besonderes Erbe in uns, obwohl große Veränderungen vor sich gehen. Die Zeiten sind hart, aber wir werden unsere Kräfte erhalten.
Und ferner glaubt Lia, daß du in der Lage bist, uns zu helfen. Du weißt noch nicht wie, aber du wirst es lernen. Du hast Zeit. Bald siehst du es.«
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Lia nickte mir energisch zu. Ihr Ausdruck sagte deutlich: So, jetzt habe ich gesagt, was ich zu sagen hatte. War sie schon ein bißchen schrullig? Ich sah in ihre Augen und bemerkte darin nicht das geringste Anzeichen von Verkalkung. Da war etwas anderes, was ich sah, aber nicht verstand. Was wußten diese alten Frauen? Sie schauten mich an, als hätte ich die Macht, sie zu trösten oder zu retten. Ich streichelte Zaras Hand und hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen. Um ein Haar hätte ich jetzt geheult.
»Ich drehe hier nur einen Film«, sagte ich, »und dann reise ich ab.
Ich möchte euch wirklich gerne helfen. Vielleicht kann ich euch…«
Ich wollte sagen: etwas Geld schicken, aber biß mir noch rechtzeitig auf die Lippen. Nein, Geld war es sicher nicht, was sie von mir erwarteten. Aber was sonst? Zaras Gesicht nahm plötzlich einen verschmitzten Ausdruck an. Es war, als ob sie in meinen Gedanken las.
»Mach dir keine Sorgen. Elias arbeitete bei der Präfektur. Nach der Sache mit Aflane verlor er die Stelle. Jetzt sagt er, es mache ihm auch nichts aus, Straßenarbeiter zu werden.«
»Sagt er das wirklich?«
Sie schüttelte den Kopf, halb traurig, halb spöttisch. »Er sagt es.
Aber nach zwei Stunden würde er davonlaufen. Zum Glück hat ihm Aflane etwas Geld hinterlassen. Elias hat ein lockeres Mundwerk, aber er sorgt gut für uns. Wir sind alt und tragen alte Kleider. Unsere Knochen schmerzen, und wir sehen schlecht. Irgendwann geht es uns allen so, hm?«
»Es muß nicht sein«, brummte ich und dachte, wie leicht man in Europa ihre Beschwerden lindern könnte. Sie blickte mich an, ein feines Lächeln auf den ausgetrockneten Lippen. Es war
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