Wuestenmond
sich her. Sie wanderten über hohe Dünen, überquerten ausgetrocknete Flüsse, kletterten Steinhänge empor. Es war, als folgten sie unsichtbaren Spuren, die sie ans andere Ende der Welt führten, dem Morgen entgegen. Als sie tief in die Berge vorgedrungen waren, fand Amenena ein verborgenes Tal. Es gab dort eine Sickerquelle, Buschgras und einige Krüppelbäume. Der Platz schien ihr sicher. Amenena und Kenza knüpften ein neues Mattenzelt und schlugen es im Windschatten einer Felswand auf.
Seitdem lebten beide Frauen allein. Kenza versorgte die Tiere, erledigte die täglichen Auf gaben. Sie war erfinderisch und arbeitsam. Amenena indessen sammelte Kräuter und Rinden, grub Wurzeln aus, die sie in der Sonne trocknete und mit Mörsern zu Pulver zerrieb. Sie benutzte auch die Kraft von rohem Leder und Steinen, um Krankheiten zu heilen. Sie lauschte den Stimmen der Kel es Suf – den Stimmen all derer, die sich in der Wüste bewegten, den Tieren. Sie gab ihnen Antwort, sie fühlte sich eins mit ihnen.
Jahre verstrichen; allmählich erlangte sie einen neuen Bewußtseinsstand, ein besonderes Verständnis für die Erde und ihre Bewohner. Und es kam die Zeit, da wurde sie als »Sehende Frau«
weithin bekannt. Kranke suchten sie auf, um von ihr geheilt zu werden. Auch solche, die in Not waren, fanden bei ihr Aufnahme und Rat. Sie half Frauen bei den Geburtswehen, und alle brachten schöne, gesunde Babys zur Welt.
Während Zara sprach, hatte ich das seltsame Gefühl, daß ich mit ihr im Kreis ihrer Gedanken trieb. Wie sie das machte, war mir ein Rätsel. Ich nahm einfach an, daß sie gut erzählen konnte und daß ich als Filmemacherin geschult war, die Bilder zuerst in meinem Kopf zu formen, ehe ich sie optisch und akustisch umsetzte. Ich verlor mich in einer Art Tagtraum, bis Zara mit einem Seufzer den Fluß ihrer Erzählung unterbrach.
»Ich bin Aflanes Mutter«, fuhr sie dann fort, »und als Mutter hat man nicht immer einen klaren Kopf. Aber ich litt mit ihm; ich wußte, daß die Liebe zu Amenena sein Herz nach wie vor gefangenhielt.
Jeder Tag ohne sie war für ihn ein verlorener Tag. In den letzten Jahren besuchte er sie öfter. Mit ihr zu reden klärte seinen Geist. Er verbrachte viele Stunden mit ihr und befolgte stets ihre Ratschläge, bis auf einen: Nie zog eine zweite Frau in sein Haus. Doch es kam, wie es kommen mußte: Seine wiederholten Reisen fielen auf. Die 91
Leute fingen an, darüber zu reden. Es berührte Aflane nicht, noch dämpfte es sein Verlangen, bei Amenena zu sein. Immer häufiger verbrachte er Tage, ja sogar Wochen bei ihr. Ich sah die Zeit kommen, da er sich mehr in ihrem Zelt als bei sich daheim in Tarn oder Algier aufhalten würde. Aber das Schicksal ließ es nicht zu.«
Zaras Gesicht war verzerrt von Schmerz. Sie sah hohlwangig und blaß aus. Ich fragte zögernd:
»Weiß Amenena von Aflanes Tod?«
Sie rieb sich die Stirn. Im Licht des Kohlenbeckens glänzten Tränen in ihren Augen.
»Es kam immer häufiger vor, daß sie ihn warnte: ›Sei doppelt vorsichtig! Halte beide Schalen im Gleichgewicht. Gib deinen Gegnern keine Gelegenheit, etwas gegen dich zu unternehmen!‹«
»Was wollte sie damit sagen?«
Abermals ließ sie ihr Zungenschnalzen hören.
»Ich neige nicht dazu, alles als Omen zu betrachten. Vielmehr glaube ich, daß man Spione hinter ihm hergeschickt hat. Man hätte gerne festgestellt, daß er Schwarzhandel mit den Rebellen trieb. Amenena empfing nicht selten Leute in ihrem Zelt, die der malischen Regierung ein Dorn im Auge waren.«
Während sie sprach, kam der junge Hund tolpatschig durch die Tür, legte sich dicht neben Zara auf den Teppich. Ihr düsterer Ausdruck verschwand. Sie lächelte, kraulte den Hund hinter den Ohren.
»Sein Name ist Driss. Elias hat ihn mir geschenkt.«
»Er ist nett«, sagte ich. »Und was macht Elias jetzt?«
Sie sah mir voll ins Gesicht.
»Er spielt seine Rolle schlecht. Er weiß nicht den Schein zu wahren wie Aflane. Mich quält das sehr. Ich sagte zu ihm: ›Sie stellen Fallen. Du bist ein Kel Rela, und ein Enkel des Amenokals. Deine Mutter ist eine Frau, deren Wort etwas gilt. Du wirst dir Feinde machen!‹ Doch er nimmt sich diese Warnungen nicht zu Herzen. Er lebt immer noch in dem Glauben, daß Ehre Ehre erzeugt. Er sagte zu mir: ›Großmutter, sie haben meinen Vater umgebracht. Ich will wissen, warum.‹ Ich antwortete: ›Jeder kennt die Wahrheit, aber du willst sie trotzdem unbedingt beweisen. Wo ist deine Vernunft geblieben?
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