Wuestenmond
größer als ich. Unsere Gesichter befanden sich fast auf gleicher Höhe.
»Du bist müde«, sagte er zärtlich.
Ich strich mit der Hand über meine Wangen und spürte, daß sich die Haut spannte. Ich hatte Angst vor einem Sonnenbrand.
»Ja, sehr. Es tut mir leid. Wir haben die ganze Nacht Sand geschaufelt. Am Ende fing mir die Sache an Spaß zu machen.«
Ich sprach freundlich und leichthin. Leichtigkeit war die Eigenschaft, die ich gerne zur Schau trug, wenn mir etwas zu nahe ging.
Er legte mir die Hand auf die Schulter.
»Geh schlafen. Wir reden morgen, wenn du Zeit hast. Es ist eine lange Geschichte.«
Über uns leuchteten die Sterne in beinahe fremdem Glanz. Elias’
helle Gestalt hob sich von der Dunkelheit ab. Etwas in seiner Haltung, in der Art, wie er atmete, strömte tiefen, umfassenden Schmerz aus. Ich zögerte, weil ich ihm einen Mühlstein von scheußlichen Erinnerungen um den Hals legte. Wollte er überhaupt ein solches Gespräch? Ich befeuchtete meine salzigen Lippen, spürte unter meiner Zunge die rissige Haut.
»Wenn es dir unangenehm ist, darüber zu sprechen…«
Er blieb lange still. Seine Hand lag auf meiner Schulter. Dann fiel sie locker herab. Geistesabwesend antwortete er:
»Nein, mach dir keine Gedanken um mich. Es ist notwendig, daß du alles weißt.«
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15. Kapitel
D ie Müdigkeit lastete schwer auf mir, verursachte mir Schmerzen im Kreuz. Gleichwohl fand ich lange Zeit keinen Schlaf. Die Entspannung, die mein Körper endlich gefunden hatte, die wohltuende Wärme der Daunen halfen nicht, meinen Geist zu beruhigen. Meine Gedanken sprangen unruhig hin und her. Die Begegnung mit Elias beschäftigte mich mehr, als ich es für möglich gehalten hätte. Er bannte mich im wahrsten Sinne des Wortes. Wie eine reine, ungetrübte Kindheitserinnerung war er zu mir gekommen.
Ich empfand ein merkwürdiges Verständnis für ihn. Auf besondere Weise fühlte ich meine Seele mit der seinen verbunden. Dieses Band war durch ein blitzartiges Wiederkennen fest geknüpft; es schien mir unmöglich, daß der eine etwas empfand, ohne daß der andere davon erschüttert wurde.
Es hatte einige Zeit gedauert, bis im Lager die letzten zu reden aufgehört hatten. Jetzt schliefen alle. Elias war irgendwo in der Dunkelheit verschwunden. Und doch wußte ich, daß er da war und an mich dachte, so wie ich an ihn dachte. Wo war ich? Dies schien keine wirkliche Welt zu sein, sondern die Traumwelt der Kinderzeit
– eine einzige große Erinnerung. Auf dem dunklen Bildschirm des Himmels glühten die Konstellationen. Eine schlanke Mondsichel wanderte durch die Sternenschleier. Ich meinte zu spüren, wie sich die Erde bewegte – nicht nur als Vorstellung im Kopf, denn ein angenehmes Gefühl des Schwindels überkam mich. Ich hörte und roch den Wind, groß und durchsichtig, der über Berge und Dünen hinwegzog, von einem Horizont zum anderen raste. Sein Rauschen erfüllte die Räume wie mit Orgelbrausen. Dieser ungewöhnliche Klang wiegte mich in den Schlaf; und mit dem Traum kam die Frau.
Diesmal saß sie regungslos wie ein Stein. Sie hielt den Oberkörper sehr gerade, den Kopf hoch. Ihre Hände lagen ruhig in ihrem Schoß gefaltet. Diesmal lag ein karminroter Feilumhang auf ihren Schultern, ähnlich wie die Mäntel, die einst Könige und Königinnen trugen. Ihr geflochtenes Haar war aufgesteckt, mit silbernen Amuletten geschmückt. Ihre Haut schimmerte wie Sand; die Augen mit der übergroßen Pupille waren auf mich gerichtet, und ihre Lippen zuckten, als wollte sie etwas sagen. Ich fühlte den Druck ihres Blickes und wußte, daß es einer war, den ich kannte und nur zwischendurch vergessen hatte. Ich kannte auch ihren Namen und 137
flüsterte ihn in die dunkle Luft hinein. Sie nickte und lächelte. Mein Herz begann mir bis zum Hals zu klopfen. Mehr als ein bloßer Traum war es ein körperliches Gefühl unfaßbarer Erinnerung, wie das Eintauchen in ein früheres Leben. Ich mußte diese Erinnerung irgendwo aufgenommen haben und in mir tragen. Vielleicht wußte Elias, wer diese Frau war. ja, dachte ich, Elias weiß solche Dinge.
Ich wollte gerne ihren Namen wiederholen, um ganz sicher zu sein, daß ich ihn gut behalten hatte, doch er fiel mir nicht mehr ein. Aus unerklärlichem Grund empfand ich deswegen das Bedürfnis zu weinen. Ich weinte nie; höchstens einmal aus Ärger oder wenn ich meinen Kopf durchsetzen wollte. Aber jetzt war es, als ob das geheimnisvolle Feuer in den Augen dieser Frau einen Stein in
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