Wuestentochter
und zweitens, dass er seine Loyalität uns gegenüber unter Beweis gestellt hat, indem er Euch diesen warnenden Brief schrieb. Zum Wohle des Königreiches bitte ich Euch, diese Geste nicht mit einer Beleidigung zu beantworten.«
De Ridefort dachte einen Moment darüber nach, dann verdunkelte sich sein Gesicht erneut. »Der Einzige, der hier jemanden beleidigt, ist Tripolis«, schnarrte er. »Des Moulins mag tun, was ihm beliebt, aber Ihr, de Mailly, reitet jetzt los und versetzt die Garnison in Alarmbereitschaft, sonst lasse ich Euch vor Euren Mitbrüdern als Verräter vor Gott anklagen, das schwöre ich Euch!«
De Mailly musterte seinen Großmeister lange. Die kalte Wut, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelte, wirkte weitaus Furcht einflößender als de Rideforts lautstarke Zornesausbrüche. »Wie Ihr wünscht, Messire«, sagte er endlich. »Aber wenn Ihr die Ritter morgen zum Kampf aufruft, vergesst später nie, dass Ihr und nur Ihr allein die Blume von Outremer unter Eurem Stiefel zermalmt habt.«
Des Moulins lief ein kalter Schauer böser Vorahnungen über den Rücken, und selbst de Ridefort wirkte mit einem Mal verunsichert. »Ich verlange von meinen Männern nicht mehr als von mir selbst«, wandte er ein. »Ich werde morgen an Eurer Seite kämpfen, und ich werde an Eurer Seite fallen, wenn es Gottes Wille ist.«
De Mailly schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ihr irrt Euch, Messire. Ich werde morgen im Kampf sterben, wie es sich für einen tapferen Mann und Krieger Gottes geziemt. Ihr jedoch, Messire, werdet wie ein feiger Verräter vor dem Feind flüchten.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, um den Raum zu verlassen, und de Ridefort verspürte zum ersten Mal seit Jahren ein Gefühl, das er schon fast vergessen geglaubt hatte: eine leise, von Zweifeln, die er sich selbst nicht eingestehen wollte, ausgelöste Furcht.
2
Als Khalidah erwachte, blieb sie eine Weile still liegen, ohne die Augen aufzuschlagen, und betete, dass sie nicht träumte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal nicht völlig durchgefroren und hungrig aufgewacht war. Doch die stille Wärme verflog nicht, sondern schien sich im Gegenteil noch zu verstärken, bis sie endlich die Augen öffnete und in das ungefähr eine Armeslänge von ihr entfernte Gesicht eines Mädchens blickte.
Khalidah fuhr hoch und schlang die Decke um sich. Das Bett, auf dem sie lag, bestand lediglich aus ein paar übereinandergeschichteten Steppdecken auf dem Boden, ähnlich wie ihr Bett im maharama. Sie spähte an dem neben ihr knienden Mädchen vorbei zu einer Reihe ähnlicher Betten hinüber, die sich an den Wänden des Raumes entlangzogen. Unterhalb der Decke waren kleine Fenster eingelassen, und in einer Feuerstelle glühten Kohlen. Möbelstücke entdeckte sie keine.
»Wo bin ich?«, fragte sie endlich.
Das Mädchen lächelte und erwiderte etwas Unverständliches. Als Khalidah den Kopf schüttelte, verfiel es in ein stark akzentbehaftetes Arabisch. »Im Tal von Qaf.« Dabei bedachte sie Khalidah mit einem Blick, der deutlich besagte, dass diese Antwort auf der Hand lag.
»Wem gehört dieses Haus?«, bohrte Khalidah weiter. »Und in wessen Bett habe ich geschlafen?« Sie deutete auf die dicken Filzmatratzen und die Decken.
»Dies ist einer der Gemeinschaftsschlafräume der Mädchen«, klang es zurück. »Und das Bett gehört dir. Es wurde schon vor Monaten für dich hergerichtet und wartet seitdem auf dich, Bibi Khalidah - seit Tor Gul Khan uns gesagt hast, dass du kommen würdest.«
»Bibi?«
»›Lady‹. Schließlich bist du die Enkelin des Khans.«
Khalidah brauchte einen Moment, um das zu verarbeiten, dann sagte sie: »Danke, äh …«
»Abi Gul«, stellte das Mädchen sich vor.
»Abi Gul«, wiederholte Khalidah. »Das ist ein schöner Name.«
Das Mädchen senkte verlegen den Kopf. Sie war ungefähr in Khalidahs Alter, war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger, zierlich gebaut und hatte ein rundes Gesicht mit ausgeprägtem Kinn und große, grüne, goldgefleckte Augen. Ihre Haut war heller als die Khalidahs, ihr schwarzes Haar trug sie zu vier Zöpfen geflochten, wovon einer sich wie eine Krone um ihre Stirn wand und die anderen lose bis zur Taille hinunterfielen. Ihre Kleider ähnelten denen, die Brekhna in Khalidahs Träumen getragen hatte: ein langes cremefarbenes Wollgewand, das an Ärmeln und Ausschnitt mit aufwändiger Stickerei verziert war, und weite, von einer roten Schärpe gehaltene Hosen. In ihrer Nase
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