Wuestentochter
will nicht, dass jemand sie sieht.«
»Warum denn nicht?«, hakte Khalidah nach.
»Wegen der Krankheit. Sie sagt, jeder, der in ihre Nähe kommt, kann sich anstecken. Wir dürfen nicht zu ihr. Niemand darf zu ihr gehen!«
Khalidah und Arzou wechselten einen Blick. »Und was für eine Krankheit hat sie?«, fragte sie das Kind.
»Eine fleckige.«
Arzou machte Anstalten, ins Haus zu gehen, doch Khalidah hielt ihn zurück. »Warte. Wenn es das ist, was du befürchtest, lässt du besser mich nach ihr sehen.«
»Warum? Du bist jung, und ich bin ein alter Mann …«
»Und ich bin gegen die Pocken immun«, schloss Khalidah. »Die Geschichte ist zu lang, um hier und jetzt erzählt zu werden - du musst mir einfach vertrauen. Bitte, Arzou. Bleib du hier, pass auf deine Enkel auf und verhindere um jeden Preis, dass Sulayman mir folgt.«
Ohne auf seine Antwort zu warten trat sie in das Haus, eilte die schattigen, mit fein gewobenen Wandbehängen, gläsernen Laternen und anderen Zeichen des Reichtums der Familie geschmückten Gänge entlang und rief Sandaras Namen, ohne eine Antwort zu erhalten. Gerade als sie das Schlimmste zu fürchten begann - in einem Raum auf eine aufgeblähte, pockenübersäte Leiche zu stoßen -, hörte sie endlich eine schwache Stimme.
»Ich bin hier - aber komm nicht näher!«
Khalidah folgte der Frauenstimme eine Treppe hinauf und in eine kleine Kammer im hinteren Teil des Hauses. Dort lag Sandaras schwarz verhüllte Gestalt auf einem schmalen Bett in einer Ecke. Auf dem Boden neben ihr standen ein Krug und ein Becher. Sandara kehrte der Tür den Rücken zu.
»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte sie. »Jetzt bist auch du verloren.«
»Wieso das?«, fragte Khalidah.
Sandara setzte sich auf, schlug ihren Schleier zurück und wandte die verbrannte Seite ihres Gesichts zur Wand. Die andere Seite, deren Haut rein und makellos gewesen war, war jetzt mit flammend roten Pusteln bedeckt. Khalidah trat auf Sandara zu, woraufhin diese instinktiv zurückwich.
»Ich kann mich nicht anstecken«, beruhigte Khalidah sie. »Ich bin immun gegen diese Krankheit.« Sie berührte eine Pustel. Sandara zuckte zusammen. »Tut das weh?«
»Nein … nein, ich war nur erschrocken.«
»Hast du überhaupt Schmerzen?«
»Eigentlich nicht.« Sandara gestattete widerwillig, dass Khalidah ihr Gesicht abtastete. »Ein paar von ihnen jucken nur.«
Khalidah nickte und fuhr fort, Sandara zu untersuchen, dabei erklärte sie: »Mein Stamm begegnete einst einem reisenden Heiler, einem Mann aus Hindustan. Zu jener Zeit herrschte in unserer Gegend eine Pockenepidemie, und Balachandra - so lautete sein Name - sagte meinem Vater, er kenne eine Methode, Menschen gegen diese Krankheit zu immunisieren. Er hatte ein aus den abgetrockneten Pusteln anderer Opfer der Seuche hergestelltes Pulver bei sich. Wenn ein gesunder Mann eine Prise davon durch die Nase aufsaugen würde, erklärte er, würde er erkranken, aber nur leicht, und hinterher immun gegen die Pocken sein, so wie alle, die die Krankheit überlebt hätten.«
»Erzähl mir nicht, dass dein Vater diesem Scharlatan erlaubt hat, seine Hexenkünste an dir zu erproben!«
Khalidah schob lächelnd einen Ärmel von Sandaras Gewand hoch, um ihren Arm zu betrachten. Dort sah sie keine Geschwüre; sie schienen sich auf Gesicht und Brust zu beschränken. »Doch, das hat er, aber erst, nachdem er das Mittel an ein paar Gefangenen ausprobiert hat. Wie Balachandra es versprochen hatte, erkrankten die Männer kurz darauf, aber nicht schwer, und danach konnten sie sich nicht noch einmal infizieren, auch nicht, als sie tagelang mit einem Mann mit nässenden Pusteln in einen Raum gesperrt wurden. Danach ließ mein Vater sich selbst behandeln, dann mich und Bilal und Zeyneb …« Sie brach ab, da ihr klar wurde, dass diese Namen Sandara nichts sagten. »Wann ist die Krankheit bei dir ausgebrochen?«
»Ein paar Tage nach deiner und Sulaymans Abreise.«
»Tauchten die Pusteln zuerst im Gesicht oder anderswo auf?«
»Nur dort, wo du sie jetzt siehst.«
»Dann brauchst du keine Angst zu haben«, versicherte Khalidah ihr. »Bei den Pocken bilden sich die Pusteln zuerst auf den Armen. Würdest du an dieser Krankheit leiden, dann wäre jetzt dein ganzer Körper befallen, und du wärst zu schwach, um noch mit mir reden zu können. Und deine Kinder hätten sich mit Sicherheit auch angesteckt.«
»Wenn es nicht die Pocken sind, was dann?«
»Das kann ich dir nicht sagen, ich bin keine
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