Wuestentochter
zurückgeblieben. Ein paar ältere Krieger, Vetter von Abi Gul und Hila, gesellten sich zu ihnen und unterhielten sie mit Geschichten früherer Feldzüge, während sie ihren Tee tranken und ihre getrockneten Maulbeeren und das eingesalzene Hammelfleisch verzehrten. Aber niemand hegte den Wunsch, allzu lange aufzubleiben; alle wussten, dass sie beim ersten Tageslicht wieder aufbrechen würden und dann wieder eine anstrengende Reiseetappe vor ihnen lag.
Die Vettern zogen sich zurück, und Abi Gul und Hila wickelten sich in ihre Decken und schlossen die Augen, ohne Sulayman und Khalidah irgendwelche Beachtung zu schenken. Khalidah war halb verlegen, halb dankbar dafür, dass sie nicht zu Ausflüchten greifen musste, als sie und Sulayman nach ihren Decken griffen und sich davonstahlen.
16
Als sie am nächsten Morgen aufstanden, stellte Khalidah fest, dass der Staub rings um die Grasfläche, auf der sie geschlafen hatten, von Spuren übersät waren. Sie inspizierte sie im fahlen Morgenlicht genauer und stieß auf einen unversehrten, perfekten Abdruck einer Hundepfote, die fast so groß wie ihre gespreizte Hand war.
»Wölfe.« Sulayman beugte sich ebenfalls über die Spuren. »Ein ganzes Rudel, wie es aussieht.«
Khalidah erschauerte. »Warum haben sie uns nicht angegriffen?«
»Vermutlich hatten sie keinen Hunger … oder keinen Appetit auf Araberfleisch.«
Khalidah bestrafte ihn für die letzte Bemerkung mit einem vernichtenden Blick.
»Alipsha würde sagen, es ist ein Omen.« Abi Gul hatte sich zu ihnen gesellt. »Der Tod hat euch bemerkt, dieses Mal aber noch verschont. Trotzdem würde ich an eurer Stelle heute Nacht beim Feuer bleiben.« Sie musterte die beiden ernst, dann grinste sie. »Keine Sorge - niemand wird euch beachten. Na ja, zumindest wird es sich niemand anmerken lassen, falls er es doch tut.«
Khalidah errötete bis zu den Haarwurzeln, und selbst Sulayman wirkte leicht verlegen.
Ein paar Tage später erreichten sie Zabol. Während die Armee in den Hügeln vor der Stadt lagerte, begleiteten Khalidah und Sulayman Arzou zum Haus seiner Tochter. Seit dem Morgen, an dem sie es verlassen hatten, schien die Zeit stillgestanden zu sein: Dieselben Blätter raschelten über der Gartenmauer, derselbe Duft nach Kräutern und Früchten wehte zu ihnen herüber. Doch etwas war anders. Nach einem Moment fand Khalidah es dank ihres muskalisch geschulten Ohres heraus: Das Plätschern von Wasser fehlte. Sulayman klopfte an das Tor, doch diesmal dauerte es lange, bis Daoud öffnete, und diesmal trat bei ihrem Anblick kein freudiges Strahlen auf sein Gesicht. Er stand einfach nur da und starrte sie an.
In der Annahme, die Gegenwart des fremden Mannes würde ihn erschrecken, ergriff Khalidah rasch das Wort. »Daoud, du brauchst keine Angst zu haben. Dies ist dein Großvater Arzou al-Dschinn. Er ist gekommen, um deine Mutter zu besuchen.«
»Er darf sie nicht sehen«, erwiderte der Junge leise. »Niemand darf zu ihr. Es tut mir leid, ich kann euch nicht einlassen.« Er versuchte das Tor zuzuschieben, doch Sulayman stemmte sich dagegen.
»Was ist passiert, Daoud?«
Das Kind sah ihn einen Moment lang an, dann brach es in Tränen aus. Sulayman bückte sich und nahm es in die Arme, dabei warf er Khalidah über seinen Kopf hinweg einen auffordernden Blick zu. Sie nickte und schlüpfte mit Arzou durch das Tor in den Garten hinein. Und hier sah sie, dass die Illusion von Zeitlosigkeit wirklich nur eine Illusion gewesen war. Der Garten lag im Sterben. Wie sie befürchtet hatte stand der Springbrunnen still, und somit führten die Bewässerungskanäle kein Wasser mehr. Die Blätter der Aprikosenbäume waren gelb verwelkt, die unreifen Früchte zu Boden gefallen, wo sie verrotteten. Sogar die Palmen verfärbten sich braun, und die kleineren, empfindlicheren Pflanzen waren längst eingegangen.
»Früher hat es hier ganz anders ausgesehen«, erklärte Khalidah Arzou. »Sandara liebte diesen Garten … als ich ihn zuletzt sah, war er eine grüne Oase. Irgendetwas muss hier geschehen sein.«
Arzou nickte. Er blickte sich traurig um, als sie auf die Vordertür des Hauses zugingen. Dort saßen die Zwillinge Madiha und Maliya auf den Stufen und knackten Bohnenschoten. Als sie Khalidah sahen, rannten sie auf sie zu und begannen ebenfalls zu schluchzen.
»Wo ist eure Mutter?«, fragte Khalidah sanft.
Ein Mädchen deutete auf den Schatten hinter der Türschwelle, doch ihre Schwester schüttelte den Kopf. »Nein. Sie
Weitere Kostenlose Bücher