Wuestentochter
der vor ihm ritt. Das Gefühl der Unwirklichkeit, das ihn überkommen hatte, verstärkte sich. Vor weniger als einer Woche hatte sein Lebensweg noch mehr oder weniger klar vor ihm gelegen. Jetzt folgte er einem Mann, der eigentlich sein Todfeind sein müsste, auf dem Weg in ein Schicksal, das er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Doch am seltsamsten war der Umstand, dass er sich in Gegenwart des fränkischen Ritters nicht unbehaglich fühlte, sondern im Gegenteil eine fast beunruhigende Zuneigung für ihn empfand und sich größte Mühe gab, ihm alles recht zu machen.
Der Franke drehte sich um, als hätte er Bilals Gedanken gelesen. Seine kriegerischen Züge wurden weich, als er den Jungen betrachtete. »Es ist nicht mehr weit«, sagte de Mailly in seinem klangvollen Arabisch. »Du hast dich gut gehalten.«
Bilal errötete vor Stolz. Er schlug verlegen die Augen nieder, als sie die Ruinenstadt verließen und auf einen hohen Sandsteinhügel zuhielten. Rechts davon lag ein etwas niedrigerer Hügel, dessen glatte Oberfläche mit den leeren Höhlen geplünderter Gräber durchsetzt war. Rings um den Gipfel verlief eine Mauer, die einen Bergfried und einen in den blauen Morgenhimmel hineinragenden Turm umgab.
»Jebal Habis.« De Mailly deutete darauf. »Dein Heim, bis dein Herr dich rufen lässt.«
Bilal wollte etwas darauf erwidern, brachte jedoch keinen Ton heraus. Die Erwähnung von Numair hatte ihm die Sprache verschlagen. De Mailly glaubte, er bringe Bilal nach Jebal Habis, damit er dort lernte, für die Franken zu spionieren. Das war zwar so gesehen richtig, aber am Ende würde er de Ridefort helfen, den Untergang derselben herbeizuführen. Deren Los war ihm zwar relativ gleichgültig - es handelte sich schließlich um Invasoren -, aber der Gedanke, dass er de Mailly hinterging, belastete ihn mehr, als ihm lieb war.
Die Pferde verfielen in einen schnellen Trab, als sie den Hügel erreichten, was Bilal vorübergehend aus seinen dunklen Grübeleien riss. Er musste zugeben, dass Numair ihm ein gutes Pferd gegeben hatte, eine dunkle Fuchsstute mit vier weißen Knöcheln, einer weißen Blesse und drei kleinen sternförmigen Malen auf der rechten Flanke, weshalb sie den Namen Anjum trug. Sie war ein Pferd der Stämme und daher viel besser für die Wüste geeignet als das von de Mailly. Bilal zügelte sie, um zu verhindern, dass sie an dem schweren Schlachtross des Ritters vorbeiflog. Sie ritten durch ein von zwei bewaffneten Wachposten, die Bilal nur mit einem flüchtigen Blick bedachten, den Marschall aber ehrerbietig begrüßten, bewachtes Tor in den Burghof. De Mailly stieg ab und reichte einem wartenden Stallburschen die Zügel. Bilal tat es ihm nach.
»Komm«, sagte der Marschall.
Bilal hörte seiner Stimme an, dass de Mailly mit den Gedanken bereits anderswo war. Er versuchte, seine Enttäuschung zu unterdrücken. Schließlich war er für den Marschall nur eine Aufgabe gewesen, die es zu erfüllen galt. Er bemühte sich, seine neue Umgebung in sich aufzunehmen. Leider gab es nicht viel zu sehen. Jebal Habis war nur eine armselige Grenzfestung, die abgesehen von ihrem Signalturm kaum eine Bedeutung hatte. Nach Kerak erschien sie Bilal wie ein Kinderspielzeug auf einem Sandhaufen. Er folgte de Mailly durch ein anderes Tor und dann eine Steintreppe hinunter in einen weitläufigen Hof. Direkt vor ihm stand der Signalturm, dessen Leuchtfeuer innerhalb weniger Augenblicke entzündet werden konnte. Links umschloss eine innere Mauer den Bergfried, einen massigen Steinturm mit Schießscharten statt Fenstern und verblassten, vom Dach wehenden Fahnen.
Obwohl es noch früh war, herrschte in der Burg bereits geschäftiges Treiben. Dienstboten eilten hin und her; Ritter auf dem Weg zu ihren Übungen, denen mit ihren Rüstungen beladene kleine Knappen folgten, riefen sich gegenseitig etwas zu. Die wenigen Frauen trugen Kleiderbündel oder Wassereimer, ein paar Diener Eimer mit Exkrementen, die ein Stück von den Wohnunterkünften entfernt geleert werden sollten. De Mailly schritt selbstbewusst über den Hof und nickte denen zu, die stehen blieben, um ihn zu grüßen. Die meisten verneigten sich vor ihm und nannten ihn ›Messire‹.
Sie stiegen eine weitere Treppe hinunter und gelangten in einen kleineren Hof mit einer halb mit brackigem Wasser gefüllten steinernen Zisterne. Links war eine schmale Tür in die Mauer eingelassen, die von zwei Rittern in Keraks schwarzroter Livree bewacht wurden. De
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