Wunder wie diese
Estella-Manie.«
»Gatsby bringt sich nicht um.«
»Doch, das tut er. Er erschießt sich und sie finden ihn im Pool.«
»Nein, Wilson erschießt Gatsby. Er denkt, der hätte was mit seiner Frau gehabt und sie dann überfahren. Und anschließend erschießt Wilson sich noch selbst.«
»Oh Mann, du hast recht, Kleine.«
»Er hat keinerlei Erkenntnis. Er geht runter zum Pool und sagt sich noch, dass Daisy bestimmt anruft… und dass er den Anruf am Pool entgegennehmen wird… Klaro, Gatsby, genau so wird’s kommen… ganz bestimmt nicht! Er stirbt voller falscher Hoffnung…«
»Ich glaube, dass er es tief in seinem Innern wusste.«
»Und ich glaube, du ›projizierst‹ da was rein, wie es die Seelenklempner nennen würden. Ich kann es kaum fassen! Ich habe etwas gewusst, was du nicht weißt!«
»Ich wusste es schon«, entgegnet er spitz. »Ich hatte nur vergessen, dass ich es wusste.«
Die Pizza kommt. Wir schieben so viele Stücke auf unsere Teller wie daraufpassen und Chris macht sich noch ein Bier auf. Zu meiner eigenen Überraschung habe ich meins mittlerweile fast ausgetrunken.
»Also, was hasst du noch?«, fragt er zwischen zwei Bissen.
»Warum willst du das eigentlich wissen?«
»Es interessiert mich einfach. Du interessierst mich.«
Eine weitere Einladung brauche ich nicht, um mich direkt über das nächste Ärgernis auszulassen – schon etwas weniger gehemmt nach dem Bier auf leeren Magen.
»Also, ich hasse – ich hasse … also, meine Mum…«
»Du hasst deine Mum?«
»Nein, nein«, sage ich schnell. »Auf keinen Fall. Ich hasse … die Verzweiflung meiner Mum.«
»Ihre Verzweiflung?«
»Genau.« Wie soll ich es bloß in Worte fassen? Ich bücke mich zu meiner Schultasche unterm Tisch, zieh sie auf die Bank und krame darin herum.
»Meine Mum hat diese extrem nervenaufreibende Ganztagsstelle, von montags bis freitags, und außerdem noch Jess, meinen Dad und die ganze Hausarbeit am Hals… Und sie ist einfach furchtbar unglücklich. Bei mir zu Hause ist alles durchdrungen vom Elend meiner Mutter. Und von ihrer Erschöpfung und der Unzufriedenheit mit ihrem Leben… Das hasse ich. Wenn ich oben in meinem Zimmer bin und sie ist gerade unter mir in der Küche, kann ich spüren, wie ihre Verzweiflung durch die Ritzen in den Dielen nach oben in mein Zimmer kriecht und sich überall im Haus breitmacht. Man hört sie mit Töpfen und Pfannen klappern oder den Staubsauger verfluchen…«
»Was hat sie denn für einen derart undankbaren Job?«
»Sie ist Lehrerin für Englisch und Geschichte an der Highschool.«
»Wo denn?«
»An der Riley Street High.«
»Oha, verdammt raues Pflaster.«
»Ja, genau. Aber weißt du was, ich hab rausgefunden, was tatsächlich für das Los meiner Mutter verantwortlich ist.«
»Und das wäre?«
»Der Feminismus.«
»Der Feminismus?« Chris runzelt die Stirn. »Das musst du mir genauer erklären.«
Ich habe gefunden, wonach ich in meiner Tasche gewühlt habe. Ein paar zerknitterte Fotokopien, die ich heraushole und auf den Tisch knalle.
»Also, unsere Englischlehrerin, Mrs Cummings, hat uns das hier zum Lesen aufgegeben. Es nennt sich Der Weiblichkeitswahn von einer Feministin namens…«
»Betty Friedan.«
»Ja, genau. Es ist 1963 erschienen und…«
»’tschuldige bitte, aber ich muss da noch mal nachhaken – deine Lehrerin gibt euch in der Zehnten Den Weiblichkeitswahn auf?«
»Ja.«
»Ist das dieselbe, bei der ihr auch Die Glasglocke gelesen habt?«
»Ja. Sie ist ziemlich durchgeknallt.«
»Das kannst du laut sagen. Erzähl weiter.«
»Also, so wie ich es verstanden habe, schreibt Betty von dieser massiven Kampagne nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Frauen…«
»Weißen Frauen aus der Mittelschicht, wohlgemerkt, nicht irgendwelchen Frauen«, wirft Chris ein. »Darüber hat sie in erster Linie geschrieben – sie hat ihre Untersuchungen zuerst an ihren ehemaligen Kommilitoninnen durchgeführt.«
»Wie auch immer«, rutscht es mir ungeduldig heraus. »Sie hat behauptet, dass die Frauen damals wieder heim an den Herd geschickt wurden und man ihnen erzählt hat, dass Weiblichkeit bedeute, Hausfrau und Mutter zu sein. Diese Lebensform führte schließlich dazu, dass die meisten Frauen vor Elend durchdrehten und valiumabhängig wurden. Dann entwickelte sich eine neue Gegenströmung, die als zweite Welle der Frauenbewegung gilt und die versucht hat, die Frauen wieder in die Welt hinauszuführen. Frauen sollten nicht nur Ehefrauen und Mütter sein,
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