Wurzeln
der Fiedler noch fünfundsiebzig Cents für sich allein. Warum meinst du, soll er da noch für Nigger spielen wollen? Außer du willst hier eine Sammlung machen und ausprobieren, ob er auch für einen Nickel spielt.«
Sie schaute vom Herd auf, um zu sehen, ob Kunta lächelte. Er lächelte nicht. Aber sie wäre wahrscheinlich auch vor Schreck in ihre Suppe gefallen, hätte er es getan. Sie hatte ihn nur ein einziges Mal lächeln sehen – das war, als er hörte, ein Sklave von einer nahe gelegenen Pflanzung, den er kannte, sei sicher in den Norden entkommen.
»Ich hab gehört, der Fiedler hat vor, alles, was er verdient, zusammenzusparen, damit er sich vom Masser freikaufen kann«, fuhr sie fort.
»Bis er dafür genug hat«, sagte Kunta ernst, »ist er zu alt, noch aus seiner Hütte zu kriechen.«
Bell lachte so sehr, daß sie beinahe wirklich in ihre Suppe fiel.
Eines Abends, kurz nach dieser Unterhaltung, hörte Kunta den Fiedler auf einem Fest spielen und dachte bei sich, daß es gewiß nicht an mangelnder Mühe liegen würde, wenn es dem Fiedler nicht gelang, sich seine Freiheit zu verdienen. Kunta hatte den Masser abgesetzt und unterhielt sich mit den anderen Kutschern unter einem Baum draußen auf dem dunkelnden Rasen, als die Kapelle, angeführt vom Fiedler, der offensichtlich heute abend in Hochform war, mit so viel Temperament einen Virginia Reel zu spielen begann, daß selbst die Weißen ihre Füße nicht stillhalten konnten.
Kunta saß so, daß er die Silhouetten der jungen Paare sehen konnte, die aus dem großen Saal zur einen Tür heraus auf die Veranda wirbelten und zur anderen wieder hinein. Als der Tanz vorüber war, stellten sie sich alle an einer langen Tafel an, die im Kerzenlicht schimmerte und mit mehr Essen beladen war, als das Sklavenquartier im ganzen Jahr zu sehen bekam. Und als sie satt waren – die dicke Tochter des Gastgebers bediente sich gleich dreimal am Büfett –, schickte die Köchin ein Tablett voller Reste und einen Krug Limonade zu den Kutschern hinaus. Da Kunta fürchtete, der Masser könne jeden Augenblick erscheinen, um sich heimfahren zu lassen, schlang er ein Hühnerbein hinunter und ein köstliches, cremiges, süßes Etwas, das einer der Kutscher »Eh-Klär« nannte. Aber die Massers standen noch stundenlang in ihren weißen Anzügen herum, unterhielten sich leise, gestikulierten mit den Händen, in denen sie lange Zigarren hielten, und nippten hier und da an ihren Weingläsern, die im Licht der Kandelaber über ihnen schimmerten, während ihre Frauen in feinen Kleidern dümmlich hinter ihren Fächern hervorlächelten und ihre Spitzentaschentüchlein flattern ließen.
Als Kunta den Masser zum erstenmal zu einem dieser »hochgestochenen Rummel«, wie Bell das nannte, gebracht hatte, war er von den widersprüchlichsten Empfindungen – Ehrfurcht, Entrüstung, Neid, Verachtung, Faszination und Abscheu – überwältigt worden. Aber stärker als alles andere war das Gefühl tiefer Einsamkeit und Melancholie gewesen, und er hatte fast eine Woche gebraucht, um sich davon zu erholen. Er hatte einfach nicht fassen können, daß es so unglaublichen Reichtum tatsächlich gab. Daß Menschen tatsächlich so lebten. Es dauerte lange und bedurfte noch einer ganzen Reihe ähnlicher Feste, bis ihm klar wurde, daß sie eben nicht so lebten, daß alles sonderbar unwirklich war, eine Art schöner Traum, den die Weißen träumten; eine Art Lüge, die sie sich erzählten: nämlich daß aus Bösem Gutes entstehen kann und auch der sich für gesittet halten darf, der Menschen nicht als Menschen behandelt, deren Blut und Schweiß und Muttermilch ihm erst das bevorrechtete Leben möglich machen.
Kunta hatte überlegt, ob er über diesen Gedanken nicht mit Bell oder dem alten Gärtner sprechen sollte, aber er wußte, er würde in der toubob -Sprache doch nicht die richtigen Worte finden. Außerdem waren die beiden schon ihr Leben lang hier, man konnte nicht von ihnen erwarten, daß sie es so sahen wie er – mit den Augen eines Außenseiters, eines, der frei geboren war. So behielt er es, wie immer, wenn er über solche Dinge nachdachte, für sich und ertappte sich bei dem Wunsch, sich nicht immer noch, trotz all der Jahre, so einsam fühlen zu müssen.
Ungefähr drei Monate später war Masser Waller – »wie beinah jeder, der im Staat Virginia überhaupt was gilt«, hatte der Fiedler gesagt – zum Thanksgiving-Ball eingeladen, den seine Eltern alljährlich auf Enfield gaben. Sie kamen
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