Wurzeln
immer schon gekonnt, wie ich noch klein war«, fuhr sie fort. »Die Kinder von meinem Masser damals haben es mir gelernt. Sie haben Lehrer gespielt, weil sie in die Schule gingen, und der Masser und die Missis haben natürlich nicht drauf aufgepaßt, weil sie wie alle Weißen denken, daß Nigger zu blöd sind, was zu lernen.«
Kunta mußte an den alten Schwarzen im Spotsylvania-Gericht denken, den er immer traf. Er fegte und wischte seit Jahren dort die Böden, und keiner der Weißen ließ sich träumen, daß er ihre Schrift so lange von herumliegenden Akten kopiert hatte, bis er es gut genug konnte, um gegen Bezahlung Reisegenehmigungen für Schwarze zu fälschen.
Den Blick starr auf ihren Zeigefinger gerichtet, der sich über die Titelseite der Zeitung bewegte, sagte Bell schließlich: »Hier steht, daß das Abgeordnetenhaus wieder zusammengetreten ist.« Sie sah näher hin. »Haben ein neues Gesetz über Steuern gemacht.« Kunta war baß erstaunt. Bells Finger wanderte die Seite hinunter. »Hier steht was drüber, daß England Nigger von da nach Afrika zurückgeschickt hat.« Sie sah zu Kunta auf. »Soll ich nachsehn, was sie sonst noch drüber sagen?« Kunta nickte. Bell brauchte eine Weile, in der sie auf ihren Finger starrte und lautlos Buchstaben und Wörter mit den Lippen formte, bis sie sagte: »Na ja, sie wissen nicht so recht, aber ungefähr hundert Nigger sind wo hingeschickt worden, was so aussieht, als ob es Sierra Leone heißt. England hat das Land von einem König, der da ist, gekauft, und die Nigger haben alle ein Stück Land und etwas Geld gekriegt.«
Als sie von der Anstrengung des Lesens ermüdet schien, blätterte sie durch die Seiten und zeigte Kunta immer wieder die gleiche Figur: ein Männchen, das einen Stock mit einem Bündel über der Schulter trug, und mit ihrem Finger auf der Unterschrift zu einer dieser Figuren sagte sie: »Sind immer die Beschreibungen von weggelaufenen Niggern. So eine war auch über dich drin, wie du das letztemal weggelaufen bist. Sie beschreiben ganz genau ihre Farbe und das Brandmal und die Prügelnarben, die sie im Gesicht oder an den Beinen oder Armen oder auf dem Rücken haben, und was sie anhatten, als sie weggelaufen sind, und so was alles. Und es steht da, wem sie gehören und wie hoch die Belohnung dafür ist, wenn einer sie fängt und zurückbringt. Ich hab schon mal gesehn, wo fünfhundert Dollar ausgesetzt waren, und einmal war was drin, wo der Nigger so oft weggelaufen ist, daß sein Masser vor lauter Wut zehn Dollar für ihn geboten hat, wenn einer ihn lebend zurückbringt, und fünfzehn für nur seinen Kopf.«
Dann legte sie die Zeitung aufseufzend weg. »Jetzt weißt du, wo ich das mit dem Niggerarzt her weiß. Genau da her, wo der Masser es auch von weiß.«
Kunta fragte, ob es nicht zu gefährlich sei, so die Zeitungen des Masser zu lesen.
»Ich paß wirklich auf«, sagte sie. »Aber ich sag dir, einmal bin ich bald zu Tode erschrocken über den Masser. Ausgerechnet wie ich eines Tages im Wohnzimmer Staub wischen sollte und in Wirklichkeit in eins von seinen Büchern geguckt hab, kommt er rein! Lieber Himmel, ich wär beinah tot umgefallen. Der Masser steht bloß da und starrt mich an. Aber gesagt hat er nichts und ist bloß einfach rausgegangen. Aber am nächsten Tag war ein Schloß an seinem Bücherschrank.«
Nachdem Bell die Zeitung wieder unter das Bett geschoben hatte, schwieg sie noch eine Weile, und Kunta kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Als sie eigentlich soweit waren, ins Bett zu gehen, setzte sie sich mit einem plötzlichen Entschluß an den Tisch und zog verstohlen, doch nicht ohne Stolz einen Bleistift und ein zusammengefaltetes Stück Papier aus ihrer Schürzentasche. Nachdem sie das Papier glattgestrichen hatte, malte sie sorgfältig ein paar Buchstaben darauf.
»Weißt du, was das heißt?« fragte sie, und ehe Kunta noch »nein« sagen konnte, antwortete sie: »Das ist mein Name. B-e-l-l.« Kunta starrte auf die Bleistiftzeichen und dachte daran, wie er jahrelang vor jeder Berührung mit der toubob- Schrift zurückgezuckt war, weil er fürchtete, sie könnte irgendeinen toubob -Fetisch enthalten, der ihm Unheil bringen würde. Er war sich noch immer, nicht so ganz sicher, ob das wirklich so ausgeschlossen war. Bell schrieb noch ein paar Buchstaben. »Das ist dein Name, K-u-n-t-a.« Sie strahlte ihn an. Gegen seinen Willen konnte Kunta nicht widerstehen und beugte sich vor, um die
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