Wurzeln
wenn einer den andern morgens grüßte, hatte er schon sein letztes gutes Wort für den Tag gesagt. Aber obwohl sie wenig miteinander sprachen, mochte Kunta diesen Noah gern, vielleicht, weil er ihn an sich selbst erinnerte, als er im gleichen Alter gewesen war – die Ernsthaftigkeit, mit der er an seine Arbeit ging und sich nicht ungebeten einmischte, wie er nichts Überflüssiges redete, aber alles beobachtete. Übrigens bemerkte Kunta, daß Noah sich noch in anderer Hinsicht ähnlich verhielt wie er: von klein auf hatte er irgendwo herumgestanden und still zugeschaut, wenn Kizzy und Missy Anne ihr Getobe auf der Plantage veranstalteten. Einmal, als Kunta vom Scheunentor aus die Mädchen beim Reifenspielen beobachtete, hatte er sich schon umdrehen und wieder hineingehen wollen, als sein Blick zufällig auf Noah fiel, der drüben bei Catos Hütte stand und ebenfalls den lachenden und kreischenden Mädchen zusah. Ihre Augen hatten sich getroffen und sekundenlang festgehalten, bevor beide sich gleichzeitig abwandten. Kunta fragte sich, was der Junge wohl gedacht haben mochte – und fühlte, daß Noah sich dies umgekehrt ebenfalls fragte. Irgendwie wußte er, daß sie beide dasselbe gedacht hatten.
Noah war jetzt zehn, zwei Jahre älter als Kizzy, aber dieser Unterschied war nicht groß genug, um zu erklären, warum die beiden sich nie wirklich angefreundet hatten, geschweige denn Spielkameraden geworden waren, zumal es außer ihnen keine Sklavenkinder auf der Plantage gab. Wenn sie sich begegneten, taten sie, als hätten sie einander noch nie gesehen. Dieses Verhalten war Kunta ein Rätsel. Es war höchstens damit zu erklären, daß die beiden sogar als Kinder schon die eherne Regel begriffen hatten, daß Haussklaven und Feldsklaven nicht miteinander verkehrten.
Wie dem auch sein mochte, Noah verbrachte seine Tage mit den Erwachsenen in den Baumwollfeldern, während Kizzy im Herrenhaus fegte, Staub wischte, Messing putzte und das Schlafzimmer des Masser aufräumte, was Bell später mit der Hickorygerte in der Hand überprüfte. Sonnabends, wenn Missy Anne gewöhnlich zu Besuch kam, brauchte Kizzy für all ihre Aufgaben wundersamerweise nur die halbe Zeit wie sonst, und so konnten die beiden den Rest des Tages nach Herzenslust spielen, es sei denn, der Masser kam unvorhergesehen zum Mittagessen heim. Dann speisten er und Missy Anne gemeinsam im Eßzimmer, und Kizzy stand hinter ihnen und wedelte mit einem frischen Zweig die Fliegen weg, während Bell immerzu aus und ein ging, die Schüsseln auftrug und beide Mädchen scharf im Auge behielt. Sie hatte ihnen schon vorher angedroht: »Wenn ich euch dabei erwische, daß ihr auch bloß in Gedanken kichert, wenn der Masser da ist, dann versohl ich euch allen beiden das Fell!«
Kunta hatte sich im Laufe der Zeit wohl oder übel damit abgefunden, seine Kizzy mit Masser Waller, Bell und Missy Anne teilen zu müssen. Er versuchte, nicht an die Sachen zu denken, die man ihr dort im Herrenhaus abverlangte, und drückte sich soviel als möglich in der Scheune herum, solange Missy Anne da war. Er konnte dann nur den Sonntagmittag abwarten, wenn der Gottesdienst beendet war und Missy Anne zu ihren Eltern heimgebracht wurde. Später am Nachmittag pflegte Masser Waller zu ruhen oder im Salon eine Gesellschaft zu haben, Bell war mit Tante Sukey und Schwester Mandy bei ihrer wöchentlichen »Jesus-Versammlung«, und Kunta stand es endlich frei, ein paar kostbare Stunden allein mit seiner Tochter zu verbringen.
Bei gutem Wetter gingen sie spazieren, meist den langen, windenumrankten Zaun entlang – denselben Weg, auf dem Kunta sich fast neun Jahre zuvor den Namen »Kizzy« für seine neugeborene Tochter ausgedacht hatte. Wenn sie dort außer Sichtweite waren, nahm Kunta Kizzys kleine weiche Hand in die seine, ohne vorläufig das Bedürfnis zu haben, zu sprechen, und so schlenderten sie gemächlich zum Bach hinunter, setzten sich dicht nebeneinander in den Schatten eines Baumes, aßen den Proviant, den Kizzy aus der Küche mitgebracht hatte – meist Biskuits mit seiner geliebten Heidelbeerfüllung –, und dann erst fingen sie an, sich richtig zu unterhalten.
Gewöhnlich redete er, und sie unterbrach ihn fortwährend mit ihren Fragen, die meist mit »Warum …?« begannen. Aber eines Tages ließ sie ihn gar nicht zu Worte kommen, so eilig mußte sie ihre Neuigkeit loswerden: »Willst du mal hören, was Missy Anne mich gestern gelehrt hat?«
Kunta war durchaus nicht neugierig auf
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