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Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Haley
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Staub sich wieder setzte und die Straße, so weit er sehen konnte, sich leer in der Ferne verlor.
    Der Masser hatte sich umgedreht und war sehr rasch mit gesenktem Kopf ins Haus gegangen, an Bell vorbei, die schluchzend auf der untersten Stufe kauerte. Kunta kam langsam wie ein Schlafwandler die Auffahrt zurückgehinkt. Plötzlich durchblitzte ihn eine afrikanische Erinnerung, und er bückte sich und suchte in nächster Umgebung des Hauses den Boden ab. Von den deutlichsten Spuren, die Kizzys nackte Füße hinterlassen hatten, scharrte er vorsichtig die zwei Handvoll Staub zusammen, die diese Spuren enthielten, und eilte damit zur Hütte. Eine uralte Verheißung besagte, wenn er den kostbaren Staub nur sicher verwahrte, würde Kizzy eines Tages an den Ort zurückkehren müssen, wo diese Fußspuren entstanden waren. Er trat durch die offene Tür in den Vorraum, und sein suchender Blick fiel auf die Kürbisflasche mit den Steinen. Doch als er seine zu Schalen gewölbten Hände öffnen wollte, um den Staub hineinrinnen zu lassen, erkannte er die Wahrheit: Seine Kizzy war dahin. Nie würde sie zurückkehren. Nie sollte er sein Kind wiedersehen.
    Kuntas Gesicht verzerrte sich. Er warf den Staub zur Decke empor. Tränen stürzten ihm aus den Augen, sein Mund öffnete sich weit zu einem lautlosen Schrei, er schwang die schwere Kürbisflasche mit beiden Armen hoch über den Kopf und schleuderte sie mit aller Kraft auf den harten Lehmboden. Sie zerbrach, und die sechshundertzweiundsechzig Kiesel, Sinnbild seiner fünfundfünfzig Regen, sprangen heraus und rollten in alle Richtungen auseinander.

Kapitel 84
    Kizzy lag schwach und benommen auf leeren Säcken in der finsteren Hütte, in die man sie gestoßen hatte, als sie kurz nach Dunkelwerden auf dem Maultierkarren hier angekommen war. Wie spät es wohl sein mochte? Die Dunkelheit schien bereits eine Ewigkeit zu dauern. Sie warf sich schlaflos hin und her, bemüht, an etwas zu denken, was ihr keine Angst machte. Zum hundertstenmal stellte sie sich vor, wie es im »Norden« sein mochte, wo den Schwarzen angeblich die Freiheit winkte, wenn ihnen die Flucht gelungen war.
    Aber wenn sie sich nun verirrte? Wo war dieser »Norden« eigentlich? Sie hatte keine Ahnung. Wenn sie nun Pech hätte und in den »tiefen Süden« geraten würde, wo Massers und Aufseher noch weit schlimmer sein sollten als Masser Waller? Trotzdem, weglaufen werde ich, schwor sie sich.
    Als die Tür knarrte, empfand sie das im Rücken wie den Stich einer Nadel. Im Aufspringen gewahrte sie eine verstohlen eintretende Gestalt, in der Hand eine brennende Kerze. Sie erkannte den weißen Mann, der sie gekauft hatte. In der anderen Hand hielt er locker eine kurze Peitsche, doch nicht die war es, die Kizzy fürchtete, sondern seine tückische, lüsterne Miene.
    »Ich will dir nicht weh tun«, sagte er, und sein nach Fusel stinkender Atem traf sie wie eine Faust. Sie ahnte, was er vorhatte: er wollte mit ihr machen, was Pappy mit Mammy hinter dem Vorhang machte, wenn da so sonderbare Geräusche zu hören waren, sobald die Eltern glaubten, Kizzy schlafe. Das gleiche, was Noah immer mit ihr machen wollte, wenn sie mit ihm spazierenging. Mehr als einmal war sie nahe daran gewesen, nachzugeben, besonders an seinem letzten Abend, doch als er ihr heiser ins Ohr sagte: »Du sollst mein Baby im Bauch haben«, erschrak sie so sehr, daß sie sich sträubte. Wenn dieser weiße Mann glaubte, sie würde ihn gewähren lassen, mußte er ja verrückt sein.
    »Mach schon, stell dich nicht so an!« Kizzy blickte zur Tür: konnte sie an ihm vorüber, hinaus in die Nacht? Er schien ihre Absicht zu erraten, denn er trat ihr in den Weg, und als er die Kerze mit geschmolzenem Wachs auf der Sitzfläche des einzigen hier vorhandenen, aber zerbrochenen Stuhls befestigte, ließ er sie nicht aus den Augen. Die Flamme flackerte. Kizzy wich zurück, bis sie die Wand berührte. »Ich bin dein neuer Masser, stell dich nicht so blöd an.« Dann schnitt er eine Grimasse, die wohl freundlich gemeint war. »Hübsch bist du. Wenn du mir gefällst, könnte ich dich freilassen …«
    Als er sie packte, schrie sie und wehrte sich, und er schlug ihr den Peitschenstiel ins Genick. »Die Haut zieh ich dir ab, Luder!« Sie biß und kratzte, doch zwang er sie zu Boden. Zunächst erstickte er ihr Geschrei mit der Hand – »bitte nicht, Masser, bitte nicht!« –, dann stopfte er ihr Fetzen in den Mund, an denen sie würgen mußte. Als sie trotzdem immer wieder

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