Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wurzeln

Wurzeln

Titel: Wurzeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Haley
Vom Netzwerk:
an; sie fürchtete, er würde als nächstes schreiben oder lesen lernen wollen. Aber anscheinend kam er nicht auf den Gedanken, und Kizzy war sorgsam darauf bedacht, nie etwas von Lesen und Schreiben zu erwähnen, was ihr, wie sie meinte, Unglück gebracht hatte. Und wirklich nahm sie in all den Jahren auf der Farm kein einziges Mal einen Bleistift oder eine Feder, ein Buch oder eine Zeitung in die Hand und sagte auch niemals, daß sie lesen und schreiben konnte. Sie zweifelte übrigens daran, daß sie es noch konnte. Manchmal buchstabierte sie im Kopf einige Wörter, an deren korrekte Schreibweise sie sich zu erinnern glaubte, und malte sich mit höchster Konzentration aus, wie diese Wörter gedruckt aussehen mochten. Wie wohl ihre Handschrift jetzt aussehen würde? Bisweilen fühlte sie sich versucht, doch sie hielt sich an den Pakt, den sie mit sich selbst geschlossen hatte: Nie wieder schreiben.
    Schmerzlicher noch als den Verzicht auf Lesen und Schreiben empfand Kizzy das Ausbleiben von Nachrichten über alles, was außerhalb der Pflanzung in der Welt geschah. Der Pappy hatte ihr immer erzählt, was er gehört und gesehen hatte, wenn er von seinen Fahrten mit Masser Waller zurückkehrte. Doch auf dieser bescheidenen und isolierten Farm, wo der Masser allein ausritt und seinen Einspänner selbst kutschierte, stellte jede Nachricht aus der Außenwelt eine Seltenheit dar. Im Sklavenquartier hörte man nur, was in der Welt vorging, wenn Masser und Missis Lea Gäste zum Essen hatten, und das war oft monatelang nicht der Fall. An einem Sonntag im Jahre 1812 brachte Miss Malizy eine Neuigkeit: »Es ist wieder Krieg mit England! Ganze Schiffe mit Soldaten sollen von da geschickt werden.«
    »Gegen mich schicken sie keine«, meinte Schwester Sarah. »Krieg machen nur die Weißen gegeneinander.«
    »Wo machen sie denn diesen Krieg?« fragte Onkel Pompey, und Miss Malizy antwortete, das habe sie nicht erfahren. »Na ja«, meinte er, »solange es oben irgendwo im Norden ist und nicht hier in unserer Gegend, ist es mir egal.«
    An diesem Abend fragte der aufgeweckte kleine George seine Mutter: »Was ist Krieg, Mammy?«
    Sie überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete: »Eine Menge Leute, die kämpfen.«
    »Um was?«
    »Was ihnen so einfällt.«
    »Und was ist den Weißen und diesen Engländern eingefallen, daß sie gegeneinander kämpfen?«
    »Du fragst einem noch ’n Loch in den Bauch!«
    Später hörte sie ihn im Dunkeln ganz leise eines von Miss Malizys Liedern summen: »Ich zieh mir an mein langes weißes Kleid! Unten am Fluß! Unten am Fluß! Ich will vom Krieg jetzt nichts mehr wissen!«
    Nachdem sie lange Zeit keine Neuigkeiten mehr gehört hatten, gab es wieder ein Essen im großen Haus, und Miss Malizy meldete: »Sie sagen, die Englischen haben eine Stadt im Norden eingenommen, die heißt ›Detroit‹.« Dann wieder, Monate später, berichtete sie, der Masser, die Missis und die Gäste seien außer sich vor Freude über »so ’n großes Schiff, von den Vereinigten Staaten. Es hat vierundvierzig Kanonen und hat viele von diesen englischen Schiffen versenkt.«
    »Junge, Junge!« rief Onkel Pompey. »Vierundvierzig Kanonen! Damit kannst du die ganze Arche Noah versenken!«
    An einem Sonntag im Jahre 1814 kam George atemlos mit einer Botschaft aus der Küche gelaufen, wo er Miss Malizy geholfen hatte: »Miss Malizy sagt, ich soll euch allen sagen, die Engländer haben 5 000 Soldaten von den Vereinigten Staaten geschlagen, das Kapitol angesteckt und das Weiße Haus!«
    »Du lieber Gott, wo ist denn das?«
    »In Washington«, erklärte Onkel Pompey. »Das ist weit weg von hier.«
    »Solange sie sich nur gegenseitig und nicht uns umbringen und verbrennen, ist mir alles recht«, meinte Schwester Sarah.
    Später im gleichen Jahr kam Miss Malizy während des Essens aus der Küche, um zu berichten: »Jetzt ist große Aufregung, weil die Schiffe von den Englischen ein großes Fort bei Baltimore beschossen haben.« Halb sprechend, halb singend gab Miss Malizy wieder, was sie gehört hatte. Am Nachmittag sahen sie dann zu ihrer Verblüffung George mit einer Truthahnfeder im Haar einherstolzieren. Er schlug mit einem Stock auf einen ausgetrockneten Kürbis und gab zum besten, was er von Miss Malizy aufgeschnappt hatte: »Seht doch im hellen Morgenschein … der Raketen grellen Glanz … seht das Sternenbanner flattern … oh, Land der Freien, Heimat der Tapferen …«
    Binnen einem Jahr wurden die schauspielerischen

Weitere Kostenlose Bücher