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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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stets verlangt hast, das Beste zu geben, zu dem sie fähig sind, aber auch ohne Illusionen das Schlimmste von sich preiszugeben. Ich erinnere mich an deine Liebe zum Leben, zu unserem Sohn, zu mir. Du hast uns verlassen, aber wir haben dich nicht verlassen. Komm nach Hause, Liebling. Bitte, komm nach Hause.« Ungeschminkte, tapfere, herzzerreißende Tatsachen. Aber hier gab es eine weitere Lücke. Wann hatte er Eleanor etwas von Zorn und Vergessen gesagt? Vielleicht war er betrunken nach Hause gekommen und hatte sich erklären wollen. Vielleicht hatte er ihr eine Nachricht hinterlassen, auf die das hier ihre Antwort war. Und sie hatte, wie immer, mehr daraus gehört, als er ihr sagte. Hatte, kurz gesagt, seine Angst gehört.
    Er zwang sich aufzustehen, zog sich aus und duschte. Als er in der Küche Kaffee machte, fiel ihm auf, daß die Wohnung leer war. Aber es war einer von Wislawas Tagen. Warum war sie nicht hier? Solanka wählte ihre Nummer. »Ja?« Es war ihre Stimme. »Wislawa?« fragte er. »Professor Solanka. Sollten Sie nicht heute arbeiten?« Lange Pause. »Professor?« fragte Wislawas Stimme, die klein und schüchtern klang. »Haben Sie das vergessen?« Er spürte, wie seine Körpertemperatur rapide sank. »Was? Was soll ich vergessen haben?« Jetzt wurde Wislawas Stimme weinerlich. »Sie haben mich gefeuert, Professor. Gefeuert, und weswegen? Wegen gar nichts. Natürlich erinnern Sie sich. Und Ihre Ausdrücke. Solche Ausdrücke hab ich von einem gebildeten Mann noch nie gehört. Nach dem ist Schluß für mich. Selbst jetzt, wo Sie mich anrufen und mich bitten wollen, kann ich nicht wiederkommen.« Hinter ihr sprach jemand, die Stimme einer anderen Frau, und Wislawa riß sich zusammen, um mit beträchtlicher Entschlossenheit hinzuzufügen: »Aber die Kosten für meine Arbeit sind in Ihrem Mietvertrag enthalten. Da Sie mich ungerechterweise gefeuert haben, werde ich sie weiterhin erhalten. Ich habe mit den Vermietern gesprochen, und die sind einverstanden. Ich glaube, sie werden mit Ihnen sprechen. Ich arbeite schon lange für Mrs. Jay, wissen Sie.« Ohne ein weiteres Wort legte Professor Solanka den Hörer auf.
    Sie sind gefeuert. Der rotgewandete Kardinal kommt die goldene Treppe herabgeschritten, um die Abschiedsworte des Papstes zu überbringen. Der Fahrer, eine Frau, wartet in ihrem kleinen Wagen, und als sich der grausame Überbringer in ihr Fenster beugt, trägt er Solankas Gesicht.
    Die Stadt wurde mit dem Pestizid Anvil besprüht. Mehrere Vögel, zumeist in den Sumpfgebieten auf Staten Island, waren am Westnilvirus gestorben, und der Bürgermeister wollte kein Risiko eingehen. Für alle galt höchste Moskito-Alarmstufe. Nach der Abenddämmerung im Haus bleiben! Lange Ärmel tragen! Während des Sprühens sämtliche Fenster schließen und alle Klimaanlagen abschalten! Ein so interventionistischer Radikalismus, obwohl kein einziger Mensch sich seit dem Beginn des neuen Jahrtausends die Krankheit zugezogen hatte. (Später wurden ein paar Fälle gemeldet; aber keine Toten.) Die Europäer hatten schon immer über die Furchtsamkeit der Amerikaner angesichts des Unbekannten, ihre Überkompensation, gelacht. »In Paris hat ein Wagen Fehlzündungen«, hatte Eleanor Solanka - sogar Eleanor, die so wenig lästerte wie kaum ein anderer Mensch - gerne gesagt, »und am Tag darauf stornieren eine Million Amerikaner ihren Urlaub.« Solanka hatte die Warnung vor dem Sprühen vergessen und war stundenlang durch das unsichtbare, herabregnende Gift spazierengegangen. Einen Moment erwog er, dem Pestizid die Schuld an seinem Gedächtnisverlust zu geben. Asthmatiker bekamen Krämpfe, Hummer, so jammerten die Umweltschützer, gingen zu Tausenden ein; warum nicht auch er? Aber sein angeborenes Gerechtigkeitsgefühl verhinderte, daß er diesen Weg einschlug. Die Quelle seiner Probleme war vermutlich eher existentialistischer als chemischer Art.
    Wenn du’s gehört hast, meine gute Wislawa, dann muß es wohl stimmen. Aber wie du siehst, habe ich nicht gemerkt... Bestimmte Bereiche seines Verhaltens waren seiner Kontrolle entschlüpft. Wenn er professionelle Hilfe suchte, würde ganz zweifellos in irgendeiner Form ein Zusammenbruch diagnostiziert. (Falls er Bronislawa Rhinehart wäre, würde er mit dieser Diagnose fröhlich nach Hause gehen und dann jemanden suchen, den er verklagen konnte.) Auf einmal erkannte er erschrocken, daß er genau so einen Zusammenbruch die ganze Zeit provoziert hatte. All diese Rhapsodien über den

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