Wut
Haus des anderen gefeiert, die Trivial-Pursuit-Spiele, die Scharaden, die Liebe. Lin Franz hatte ihn am Morgen darauf angerufen, um ihm zu sagen, daß das, was er gesagt hatte, unverzeihlich sei. »Bitte, vergiß nicht«, setzte sie in ihrem flüsterleisen, überformellen vietnamesisch-amerikanischen Englisch hinzu, »daß die Tatsache, daß du Eleanor verlassen hast, nur dazu beigetragen hat, daß Morgen und ich uns jetzt noch näher stehen. Und Eleanor ist eine starke Frau, sie wird ihr Leben in den Griff kriegen, sobald sie aufgehört hat zu trauern. Wir werden ohne dich weitermachen, Malik, und du wirst um einiges ärmer sein, nachdem du uns aus deinem Leben ausgeschlossen hast. Du tust mir leid.«
Ein Messer, über die schlafenden Gestalten der Ehefrau und des Kindes gehalten, darf niemandem gegenüber erwähnt, geschweige denn erklärt werden. Ein solches Messer repräsentiert ein weit schlimmeres Verbrechen als das Vertauschen einer langhaarigen Katze mit einem wimmernden Baby. Und Solanka hatte keine Antwort auf das Wie und Warum dieses entsetzlichen, rätselhaften Geschehens. Ist dies ein Dolch, den ich vor Augen habe, den Griff gen meine Hand gestreckt? Er war ganz einfach dagewesen, wie der schuldige Macbeth, und auch die Waffe war ganz einfach da, konnte später nicht weggewünscht oder aus dem Bild entfernt werden. Daß er das Messer nicht in die schlafenden Herzen gestoßen hatte, machte ihn nicht schuldlos. Allein das Messer so zu halten und so dazustehen war mehr als genug. Schuldig, schuldig! Selbst als er diese harten, die Freundschaft beendenden Worte zu seinem alten Freund sagte, war Malik Solanka sich ihrer Heuchelei klar bewußt gewesen, daher akzeptierte er Lins darauffolgende Zurechtweisung widerspruchslos. Als er mit dem Daumen an der Sabatier-Schneide entlangfuhr, um im Dunkeln ihre Schärfe zu prüfen, hatte er sich jedes Recht auf Protest verwehrt. Das Messer war jetzt seine Story, und er war nach Amerika gekommen, um sie zu schreiben.
Nein! Sie in seiner Verzweiflung ungeschrieben zu machen. Nicht Sein, sondern Nichtsein. Er war ins Land der Selbsterfindung geflohen, die Heimat von Mark Skywalker, dem Jedi-Texter mit den roten Hosenträgern, das Land, dessen paradigmatische moderne Fiktion die Story eines Mannes war, der sich selbst neu erschuf - seine Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Hemden, sogar seinen Namen - aus Liebe; und hier, an diesem Ort, zu dessen Erzählungen er fast keine Verbindung hatte, wollte er sich an die erste Phase einer solchen Restrukturierung wagen, nämlich - er wandte dieselbe Art mechanischer Imagerie jetzt auch auf sich selbst an, die er so rücksichtslos gegen die toten Frauen verwendet hatte - das komplette Löschen, die master delection des alten Programms. Irgendwo in der existierenden Software gab es ein Virus, einen potentiell tödlichen Fehler. Da half nichts weiter als das totale Entegotisieren des Ego. Wenn er den ganzen Apparat säubern konnte, dann würde auch das Virus im Müll landen. Und dann konnte er vielleicht damit beginnen, einen neuen Menschen zu konstruieren. Ihm war klar, daß dies ein phantastisches, unrealistisches Vorhaben war, wenn es denn ernst, wortwörtlich gemeint war, statt nur so dahingesagt; dennoch, er meinte es wortwörtlich, ganz gleich, wie verrückt es klingen mochte. Denn was war die Alternative? Geständnis, Angst, Trennung, Polizisten, Hirnbohrer, Broadmoor, Schande, Scheidung, Gefängnis? Die Schritte in dieses Inferno hinab schienen unausweichlich zu sein. Und das schlimmste Inferno würde er zurücklassen, in Gedanken würde sein heranwachsender Sohn für immer die heiß brennende Klinge vor sich sehen.
In diesem Moment hatte er sich an einen fast religiösen Glauben an die Macht der Flucht geklammert. Die Flucht würde andere vor ihm retten, und ihn vor sich selbst. Er würde dorthin gehen, wo niemand ihn kannte, und sich in diesem Unwissen reinwaschen. Eine Erinnerung aus dem verbotenen Bombay verlangte energisch seine Aufmerksamkeit: die Erinnerung an den Tag im Jahre 1955, als Mr. Venkat - der Großbankier, dessen Sohn Chandra der beste Freund des zehnjährigen Malik war - an seinem sechzigsten Geburtstag zum sanyasi wurde und seine Familie für immer verließ: nur bekleidet mit einem Gandhi-Lendentuch, mit einem langen Holzstab in der einen und einer Bettelschale in der anderen Hand. Malik hatte Mr. Venkat sehr gemocht, der ihn stets ein wenig neckte, indem er ihn aufforderte, ganz schnell seinen endlos
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