Wut
Selbst nach all diesen Jahren bestimmte sie über ihn, hatte nichts von ihrer Macht über ihn verloren. Und wenn er die Sätze jener niemals erzählten Geschichte beendete? ... Diese Frage mußte bis zu einem anderen Tag warten. Er schüttelte den Kopf. Neela verspätete sich. Solanka legte die Zeitung hin, zog ein Stück Holz und ein Schweizer Armeemesser aus der Manteltasche und begann konzentriert zu schnitzen.
»Wer ist das?« Neela Mahendras Schatten fiel auf ihn. Die Sonne stand hinter ihr, und als Silhouette wirkte sie noch größer als in seiner Erinnerung. »Ein Künstler«, antwortete Solanka. »Der gefährlichste Mensch der Welt.« Sie staubte eine Stelle der Museumstreppe ab und setzte sich neben ihn. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte sie. »Ich kenne viele gefährliche Menschen, und keiner von ihnen hat jemals ein überzeugendes Kunstwerk geschaffen. Und glauben Sie mir, kein einziger von ihnen war aus Holz.« Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, er schnitzend, sie ganz einfach still, der Welt die Gabe ihrer Existenz darbietend. Später sollte sich Malik Solanka, wenn er an ihre ersten gemeinsamen Minuten dachte, vor allem an das Schweigen und die Stille erinnern und daran, wie leicht es ihnen gefallen war. »Ich habe mich in dich verliebt, als du kein Wort gesprochen hast«, erklärte er ihr. »Woher sollte ich wissen, daß du die redseligste Frau von der Welt bist? Ich kenne viele redselige Frauen, und glaube mir, neben dir scheint jede von ihnen aus Holz zu sein.«
Nach einigen Minuten legte er die halbfertige Figur beiseite und entschuldigte sich dafür, daß er so unaufmerksam gewesen war. »Keine Ursache«, gab sie zurück. »Arbeit ist Arbeit.« Sie standen auf, um die große Treppe hinunter - und zum Park hinüberzugehen, und als sie sich erhob, stolperte ein Mann auf der Stufe über ihr und rollte schwer und schmerzhaft ein Dutzend oder mehr Stufen hinab, wobei er Neela auf dem Weg nach unten nur knapp verfehlte; aufgehalten wurde sein Sturz durch eine Gruppe Schulmädchen, die ihm laut kreischend im Weg saßen. Professor Solanka erkannte in dem Mann jenen, der so leidenschaftlich mit der Handy-Lügnerin geschmust hatte. Er sah sich nach Ms. Handy um und entdeckte sie gleich darauf, wie sie zu Fuß Richtung uptown stürmte, während sie immer wieder Taxis heranzuwinken suchte, die bereits besetzt waren und ihren heftig wedelnden Arm ignorierten.
Neela trug ein knielanges, senffarbenes Schalkleid aus Seide. Das schwarze Haar hatte sie sich zum festen Chignon aufgesteckt, und ihre langen Arme waren nackt. Ein Taxi hielt und entließ seinen Fahrgast nur für den Fall, daß sie ein Transportmittel benötigte. Ein Hot-Dog-Verkäufer offerierte ihr alles, was sie wollte, gratis: »Wenn Sie nur hier essen, Lady, damit ich Ihnen dabei Zusehen kann.« Solanka, der hier zum erstenmal die Wirkung erlebte, die ihm Jack Rhinehart so vulgär und wortreich geschildert hatte, bekam das Gefühl, eines der kostbarsten Exponate des Met eine ehrfurchterstarrte Fifth Avenue entlang zu begleiten. Nein: das Meisterstück, an das er dachte, befand sich im Louvre. Wenn eine leichte Brise ihr das Kleid gegen den Körper drückte, sah sie aus wie die geflügelte Nike von Samothrake, nur mit Kopf. »Nike«, sagte er laut und verwirrte sie damit. »Das ist die, an die Sie mich erinnern«, erklärte er ihr. Sie krauste die Stirn. »Ich erinnere Sie an Sportartikel?«
Die Sportartikel hatten dagegen ein Auge auf sie geworfen. Als sie in den Park einbogen, näherte sich ihnen ein junger Mann im Jogginganzug, der durch die Wucht von Neelas Schönheit eindeutig kleinlaut geworden war. Offenbar unfähig, sie anzusprechen, wandte er sich statt dessen an Solanka. »Sir«, stammelte er, »bitte, glauben Sie nicht, daß ich Ihre Tochter anmachen will, das heißt, ich will sie nicht etwa bitten, mit mir auszugehen, oder so, es ist einfach nur, daß sie die wunderbarste, ich mußte ihr einfach sagen -« jetzt sprach er endlich mit Neela -, »einfach sagen, daß Sie die wunderbarste ...« Ein mächtiges Brüllen stieg in Malik Solankas Brust empor. Es täte ja so gut, diesem jungen Mann die Zunge aus dem widerlichen, fleischigen Mund zu reißen. Es täte ja so gut mitanzusehen, wie diese muskulösen Arme aussähen, wenn sie von diesem prachtvoll trainierten Körper gelöst wären. Geschnitten? Gerissen? Wie wär’s, wenn er in etwa eine Million Stücke geschnitten und gerissen würde. Wie wär’s, wenn ich sein beschissenes
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