Wyoming 2 - Wildes Herz
der Klavierspieler in einem der Saloons weiter unten an der Straße eine Pause machte. Auch die Musik kam aus weiter Ferne, der Pianist spielte recht gut, und die Klänge waren eher beruhigend als störend. Immer wieder war Gelächter zu hören, aber nichts war laut genug, um die Bürger der Stadt wachzuhalten.
Es lag also gewiß nicht an den gedämpften Lauten, daß Jocelyn wach dalag. Wenn man bedachte, wie oft sie in der letzten Zeit mitten in der Nacht vom schrillen Kläffen der Koyoten geweckt worden war oder gar davon erwacht war, daß eine ihrer Wachen bei ihren Runden um ihr Zelt über einen der Zeltpflöcke gestolpert war und das Blaue vom Himmel herunterfluchte, dann waren diese spätnächtlichen Stadtgeräusche friedlich. Aber sie wiegten sie nicht in den Schlaf.
Sie war immer noch zu aufgekratzt, wenn sie sich überlegte, was heute nacht hätte passieren können, und sich fragte, warum es sie erleichterte, daß es nicht dazu gekommen war. Sie kam zu dem Schluß, daß eine derart planvolle Verführung ihr einfach nicht lag. Sie würde es Vanessa sagen müssen, und Vanessa würde enttäuscht sein. Wahrscheinlich hatte sie beim Einschlafen noch Ränke geschmiedet, um eine Strategie für morgen nacht zu planen.
Jocelyn gab auf und schlug die Decke zurück. Da der Mond hinter dem Hotel stand und ihr Zimmer nach vorn ging, war es außerordentlich dunkel, doch ihre Augen hatten sich so gut auf das Dunkel eingestellt, daß sie mühelos die Lampe finden und sie anzünden konnte. Sie drehte jedoch den Docht herunter, damit die Lampe nur einen matten Schein warf, der gerade ausreichte, damit sie ihren Morgenmantel finden und zum Fenster laufen konnte, ohne zu stolpern.
Als sie die Vorhänge zurückgezogen hatte, stellte sie zu ihrer Enttäuschung fest, daß es nichts zu sehen gab. Der Mond schien jetzt so hell, daß die Schatten, die er warf, pechschwarz waren. Das Dach der Terrasse lag im Dunkeln, und das Geländer am unteren Rand, an dem das Hotelschild angebracht war, versperrte ihr den Ausblick auf die Straße. Im Mondschein konnte sie die Gebäude gegenüber deutlich erkennen, zumindest die obere Hälfte, aber nirgends brannte Licht in einem Fenster, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte.
Was sie jetzt brauchte, war ein langer Spaziergang, bis sie richtig erschöpft wäre. Sie war sicher, daß die Wache vor ihrer Tür nichts dagegen gehabt hätte, sie zu begleiten, aber die Vorstellung, wie sehr Sir Parker am nächsten Morgen darüber entrüstet gewesen wäre, daß sie sich mit einem Minimum an Schutz hinauswagte, hielt sie zurück.
Sie seufzte, ärgerte sich über sich selbst, ärgerte sich über Colt, ärgerte sich über ihre dumme Lage. Wenn Longnose nicht gewesen wäre, hätte sie diesen Spaziergang machen können; wenn sie gewußt hätte, wo Colt war, hätte sie keinen Spaziergang gebraucht; wenn sie sich nichts aus ihm gemacht hätte, hätte all das keine Rolle gespielt, und sie wäre mühelos eingeschlafen. Verdammt noch mal.
Wie konnte er es wagen, einfach vom Erdboden zu verschwinden? Was wäre gewesen, wenn sie überstürzt hätten aufbrechen müssen, eine äußerst realistische Möglichkeit, wenn man bedachte, wie oft es ihnen bisher schon so ergangen war? Aber jetzt war sie wirklich unlogisch. So, wie Colt jeden Tag die Gegend auskundschaftete, wußte er, wenn Longnose in ihrer Nähe wäre, und er hätte ihr etwas gesagt. Der Engländer suchte wahrscheinlich immer noch in Arizona nach ihrer Fährte. Und um ehrlich zu sein, bereitete ihr der Umstand, daß Colt wahrscheinlich heute nacht im Bett einer anderen Frau lag, genügend Sorge, um ihr den Schlaf zu rauben.
Das half ihr auch nicht gerade weiter. Sie würde diesen Spaziergang einfach unternehmen und sich erst hinterher Gedanken machen, wie Sir Parker wohl reagieren mochte. Aber in dem Moment, in dem sie sich vom Fenster abwandte, hörte sie draußen im Flur etwas plumpsen, ganz so, als ob... als ob jemand hingefallen wäre. Sie starrte erst die Tür an und dann ihr Täschchen, das am anderen Ende des Zimmers lag. Sie wußte ohne jeden Zweifel, daß sie keine Chance hätte, den Derringer an sich zu bringen, bevor die Tür aufgehen würde. Und der Derringer taugte nur auf kurze Entfernungen etwas. Sie hätte ihn in der Hand haben und hinter der Tür stehen müssen, um den Eindringling dort zu erwarten, doch ein weiterer Blick auf die Tür zeigte ihr, daß sich der Griff bereits bewegte.
Ohne nachzudenken, schlüpfte sie durch
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