Wyrm. Secret Evolution
später wieder verschwamm, nur um sich kurz darauf erneut aus unzähligen winzigen Partikeln wieder zusammenzufügen.
Ihr Erstaunen verwandelte sich in blankes Entsetzen. Als ihr Spiegelbild hätte sie ein schmales Mädchen mit einem ebenso schmalen Gesicht sehen müssen, das von kinnlangen dunklen Haaren umrahmt war. Doch stattdessen blickte sie direkt in das Antlitz eines kräftig gebauten Jungen, dessen Haare und Schultern deutlich erkennbar waren, während sein nackter Oberkörper zu einem blassen Schemen verschwamm. Sein Gesicht lieà sich nicht mit ihren Blicken einfangen, es nahm zunächst vertraut menschliche Züge an und zerfloss dann wie flüssiges Quecksilber zu einem nicht greifbaren Etwas.
Sie schlug die Hand vor den Mund und wich zurück. Im selben Augenblick erhob sich die merkwürdige Gestalt aus dem Wasserloch und begann sich in eine dreidimensional aufsteigende Säule zu verwandeln, die die Umrisse eines Männerkörpers annahm, um gleich darauf wieder zu zerflieÃen.
Blasses Licht kroch nun auf fast körperliche Art aus den Wänden der Höhle hervor, und aus den Augenwinkeln heraus glaubte sie eigentümliche, schlangengleiche Bewegungen zu bemerken. Doch sie hatte keinen Blick für ihre Umgebung. Der gesichtslose Junge bewegte sich gerade auf sie zu, und sie wich erschrocken zurück. Tiefschwarze Augen fixierten sie, deren Blick sie mehr erahnte als wirklich erkannte. Es spiegelte sich etwas Uraltes, tief Vertrautes darin, und sie hatte das Gefühl, als würde sie auf eine Weise angeblickt, die tief in ihre Seele eindrang, tief hinein zu ihren geheimsten Ãngsten, Wünschen und Träumen.
Sie wollte sich abwenden und wegrennen. Aber das konnte sie nicht.
Die Zeit der Begegnung war gekommen.
01
Als Alina ins Freie trat, peitschte ihr Schneeregen ins Gesicht. Doch sie bemerkte es kaum. Es war insgesamt kalt geworden in den letzten Tagen. Und das nicht nur, weil das Thermometer inzwischen satte Minus- statt Plusgrade anzeigte. Sondern auch weil erbarmungslose Kälte Einzug in ihr Herz gehalten hatte.
Das schlanke Mädchen eher kleiner Statur atmete tief durch und stapfte mit wütenden Schritten durch den grauweiÃen Schneematsch. Der Matsch sollte nicht hier sein und ihr den Weg erschweren. Sie sollte selbst nicht hier sein. Und wenn sie es recht bedachte, dann sollte der graue groÃe Kasten hinter ihr auch nicht existieren, in dem man auf so grausam professionelle Art ungeborenes Leben zerstörte.
Wie hatte das alles nur passieren können?
Doch auch das war absolut die falsche Frage. Ihre sowieso schon dunklen Visionen hatten sich in den letzten Wochen zu etwas anderem, noch viel Bedrohlicherem verwandelt. Düstere Traum- und Erinnerungsfetzen durchschnitten wie scharfe Glassplitter ihre Gefühle und rissen sie mit sich an einen Ort des Schreckens, den sie am liebsten für immer und vollständig aus ihren Gedanken verbannt hätte ⦠Dieser fürchterliche Angriff, dem sie sich in dunklen Gängen nicht hatte erwehren können, so benommen wie sie von dem grünlichen und vollkommen unerwartet ihr entgegengestiegenen Wabern gewesen war. Das gestaltlose und auf schreckliche Weise doch greifbare Wabern.
Das Rascheln von Kleidung, der widerlich warme Atem in ihrem Gesicht. Die glitschigen Hände, die sie brutal niederdrückten. Der unförmige Körper, der auf ihr lag, schwer, stinkend, abstoÃend. Ihre hilflosen Versuche, sich zu befreien, sich aus der Umklammerung zu lösen, die ihr zum Verhängnis werden würde, und dann ihr Abgleiten in die erlösende Ohnmacht â¦
Sie stöhnte auf. Ob Vision oder Erinnerung â alles in ihr rebellierte gegen diese Bilder. Sie hasste das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein und unaussprechliche Dinge über sich ergehen lassen zu müssen. War das vielleicht der wahre Grund dafür, warum sie sich gerade in einer gynäkologischen Klinik hatte behandeln lassen?
»Mir doch egal«, murmelte sie. »Mir doch scheiÃegal.«
Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren wie ein Aufschluchzen, und sie hasste sich auch dafür. Schwäche zu zeigen war gefährlich in der Welt, in der sie lebte. Sie wischte sich den eiskalten Regen so heftig aus dem Gesicht, als seien es kindische Tränen. Nur weg hier, dachte sie und beschleunigte ihre Schritte.
*
GroÃe Schäden in der SteinstraÃe
Zahl der Toten nach Erdrutsch
Weitere Kostenlose Bücher