Xeelee 4: Flux
aber sie hätte es nie über sich gebracht, diese Ausstellungsstücke zu berühren.
Seltsamerweise waren diese Korridore völlig geruchsneutral; es roch weder nach Leben noch nach Tod.
Sie betraten einen Bereich, in dem menschliche Artefakte gezeigt wurden. Vieles stammte aus der Stadt selbst, mutmaßte Dura, aber aus längst vergangenen Zeiten; lachend deutete Ito auf die an den Wänden hängenden Kleidungsstücke und Hüte. Obwohl Dura den Witz nicht verstand, lächelte sie höflich. Dann gab es noch ein detailliertes, ungefähr mannshohes Holzmodell der Stadt. Im Innern befand sich sogar eine Lampe, so daß das Modell leuchtete. Dura erfreute sich eine Zeitlang an diesem Anblick, während Ito ihr die einzelnen Merkmale der Stadt erklärte. Hier war der Holzkonvoi, der durch eine der großen Luken in die Unterstadt einfuhr, und dort war das Rückgrat, das in den UnterMantel hinabführte; winzige Wagen, die Modellfischer transportierten, glitten auf der Suche nach Kernstoff am Rückgrat abwärts. Und der die Stadt krönende Palast erstrahlte in hellem Glanz.
Weiter vorne standen Vitrinen, in denen Artefakte von außerhalb der Stadt ausgestellt waren. Ito berührte Duras Arm. »Einiges davon erkennst du vielleicht wieder.« Sie sah hölzerne Speere und Messer, Netze, Ponchos und Seile.
Oberströmler-Artefakte.
Die Gegenstände sahen indes nicht so aus, als ob sie von den Menschlichen Wesen selbst stammten. Doch das war nicht weiter verwunderlich, wie Ito sagte: es gab Oberströmler-Gruppen an der Grenze von Parz’ Hinterland und an der Peripherie der Pol kappe. Während Dura die Gegenstände betrachtete, erinnerte sie sich wieder an das Messer und das Seil, das sie um die Hüfte gewickelt hatte. Mit einem Anflug von Bitterkeit fragte sie sich, ob es diesen Leuten auch Freude bereiten würde, sie und ihren Bruder an die Wand zu nageln.
Schließlich führte Ito sie zum berühmtesten Ausstellungsgegenstand des Museums (sagte sie zumindest). Sie betraten einen sphärischen Raum mit einem Durchmesser von ungefähr einem Dutzend Mannhöhen. Das Licht hier war trübe; es kam von ein paar verhangenen Holz-Lampen, und es dauerte eine Weile, bis Duras Augen sich an das Zwielicht angepaßt hatten.
Zuerst glaubte sie, die Kammer sei leer. Doch dann schälte sich ein Objekt aus der Dunkelheit. Es war eine etwa mannshohe Wolke, ein Geflecht aus einer leuchtenden Substanz. Ito forderte sie auf, näher heranzutreten und das Gesicht dicht ans Geflecht zu legen. Nun sah sie, daß es sich bei dem Exponat um ein verdrilltes Netz handelte, das aus vielleicht handbreiten Zellen bestand. Und Dura erkannte noch weitere Details: SubNetze, die aus winzigen Zellen bestanden, welche nicht breiter als eine Haar-Röhre waren. Sie fragte sich, ob sie wohl noch kleinere Strukturen erkennen würde, wenn ihr Sehvermögen dazu ausgereicht hätte.
Ito zeigte Dura eine an der Wand hängende Tafel mit einer Inschrift. »›Die Struktur ist fraktal‹.« Ito artikulierte das Wort sorgfältig. »›Das bedeutet, daß sie in unterschiedlichen Maßstäben dieselbe Struktur hat. Kernstoff weist diese Eigenschaft auf; sie besteht aus Hyperonen, Taschen aus Quarks, in denen die Nukleonen – Protonen und Neutronen – der menschlichen Welt gelöst sind.
In Regionen, die geeignete Lebensbedingungen für Menschen bieten, existiert Kernstoff in großen metastabilen Materieinseln – den Kernstoff-Beigen, die von Fischern abgebaut werden –, aus dem unter anderem auch Anker-Bänder hergestellt werden…
Doch tiefer im Kern wandelt die hyperonische Substanz sich zu außergewöhnlichen Strukturen wie diesem Modell um. Dieses Exponat basiert auf Spekulationen – auf fragmentarischen Überlieferungen aus der Zeit der Kern -Kriege und auf mehr oder weniger zuverlässigen Schilderungen von Fischern. Nichtsdestoweniger vertreten die Gelehrten der Universität die Ansicht, daß…‹«
»Aber«, unterbrach Dura Itos Vortrag, »was ist es?« Ito drehte sich zu ihr um, wobei ihr Gesicht im trüben Licht rund und glatt wirkte. »Nun, es ist ein Kolonist«, sagte sie.
»Aber die Kolonisten waren doch menschlich.«
»Nein«, sagte Ito. »Eigentlich nicht. Sie haben uns ausgesetzt, unsere Maschinen gestohlen und sind dann im Kern verschwunden«, sagte sie mit unbewegter Miene. »Und das ist aus ihnen geworden. Sie lebten in diesen Strukturen aus Kernmaterie.«
Dura schaute in die bedrohlichen Tiefen des Modells. Es kam ihr so vor, als ob sie, hier im Bauch der
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