Xeelee 4: Flux
ein Provisorium war, so war sie dennoch großartig; sie glich einem gigantischen Tier, das die Anwesenheit des winzigen Menschleins überhaupt nicht wahrnahm.
Er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Farr blickte sich um, aber Cris war verschwunden. Er spürte einen Anflug von Orientierungslosigkeit. Doch das war absurd – schließlich war die Wahrscheinlichkeit, daß er sich hier draußen verirrte, viel geringer als in den Eingeweiden der Stadt. Er drehte sich um. Dort, weit entfernt, schwamm der in einen signalorangefarbenen Overall gekleidete Cris auf dem Surfbrett. Er befand sich in der Nähe der Haut, doch in einer weit überhöhten Position zu Farr. Er war aufgestiegen, während Farr seinen Tagträumen nachgehängt hatte.
Verlegen und leicht gereizt schwamm Farr mit kräftigen Stößen der am Oberlauf trainierten Beine auf Cris zu.
Cris verfolgte seinen Anflug mit einen provokanten Grinsen. »Mach schon«, sagte er. »Die Leute warten schon.« Dann stellte er sich wieder auf das Brett und schwamm davon.
Farr folgte ihm im Abstand von vielleicht einer Mannhöhe; einer nach dem anderen erschienen die Jungen über der Hülle der Stadt.
Im Vergleich zu der spektakulären Surftechnik, die Cris nun demonstrierte, war seine Vorführung in der Stadt die reinste Karikatur gewesen. Cris stellte einen Fuß auf das glitzernde Brett, und mit dem anderen stieß er sich ab. Dadurch erzielte er eine hohe Geschwindigkeit. Der Fuß schien sich an der fein strukturierten Oberfläche festzusaugen. Er streckte die Arme aus, um die Balance zu halten, wobei seine Beinmuskulatur geschmeidig arbeitete. Der ganze Vorgang vermittelte den Eindruck völliger Leichtigkeit, und beim Anblick von Cris verspürte Farr ein Jucken im Rücken und in den Beinen. Er sehnte sich danach, das Surfbrett selbst einmal auszuprobieren. Mit der Kraft, die er hier am Pol hatte, würde er das verdammte Ding zum Fliegen bringen…
Doch er mußte schon zugeben, daß Cris Fertigkeiten über jeden Zweifel erhaben waren; virtuos überwand er mit seiner Massenträgheit den Widerstand des Magfelds. Die Geschwindigkeit und Eleganz, mit der Cris sich bewegte, war ein ästhetischer Genuß; Elektronengas waberte knisternd über den ins Brett eingelegten Bändern aus Kernstoff.
Die Jungen entfernten sich von den Austrittsöffnungen der Entsorgungsanlagen an der Basis und stiegen diagonal an der Haut der Stadt empor. Dabei kreuzten sie eines der Anker-Bänder. Farr sah, daß das Band mit Nieten aus Kernstoff an der Haut befestigt war. Die Breite des glänzenden Streifens aus Kernstoff betrug etwas über eine Mannhöhe, und aufgrund der starken Ströme, von denen der supraleitende Kern des Bandes durchflossen wurde, spielte Elektronengas über die Oberfläche. Das Magfeld wurde in diesem Bereich durch das Feld des Bandes verzerrt und komprimiert und setzte Farr einen starken Widerstand entgegen.
Cris stieg vom Brett und entfernte sich zusammen mit Farr von der Haut, wobei sie vorsichtig am Anker-Band vorbeischwammen. »Die Feldlinien liegen hier zu dicht nebeneinander«, sagte Cris. »Man kann sie nicht richtig greifen.«
Nachdem sie das Anker-Band hinter sich gelassen hatten, entfaltete die Haut sich vor Farrs Augen. Daß die Konstruktion an sich improvisiert war, wußte er bereits. Trotzdem hatte er erwartet, daß die Haut keine besonderen Merkmale aufweisen würde. Doch bald erkannte er, daß bei dieser schieren Größe Variationen einfach unvermeidlich waren. Während sie sich dem Äquator und damit der Oberstadt näherten, wurden die Frachtluken und öffentlichen Luft-Schächte zunehmend durch kleinere Öffnungen ersetzt, die offensichtlich als Durchgang für Luft-Wagen und Menschen dienten. Außerdem tauchten nun kleine Portale auf, bei denen es sich um Fenster oder Lichtschächte von Privatwohnungen handeln mußte. Ein Mann lehnte sich aus einem Fenster und leerte einen Kübel mit Unrat aus; das Zeug löste sich in glitzernde Partikel auf. Cris legte die Hände trichterförmig an den Mund und entbot dem Mann einen Gruß. Entgeistert schaute der untersetzte und gelbhaarige Mann in den Himmel. Als er die Jungen dann ausgemacht hatte, drohte er ihnen mit der Faust und rief eine unverständliche Beschimpfung. Cris erwiderte die Freundlichkeit, und Farr schüttelte drohend die Faust. Er lachte über Cris’ Respektlosigkeit; er fühlte sich frei, jung und im Vollbesitz seiner Kräfte, und der Vergleich mit dem griesgrämigen alten Mann am Fenster trug nur zur
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