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Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Xeelee 5: Vakuum-Diagramme

Titel: Xeelee 5: Vakuum-Diagramme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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Sinne, und dafür erschienen die magnetischen, aus der Luft materialisierenden Flussröhren im Vordergrund; das Konvektionsmuster stand als grob konturiertes Gerüst im Hintergrund. Die Röhren hatten jeweils einen Durchmesser von hundert Metern und zogen sich als Kanäle durch die Luft; sie waren Tausende von Meilen lang und erstreckten sich überall um sie herum, bis hinunter zum Plasma-Meer.
    Lieserl tauchte in eine dieser Röhren ein und verspürte das Prickeln eines starken Magnetfeldes. Die Wandung raste an ihr vorbei und krümmte sich leicht. »Es ist wundervoll«, kommentierte sie. »Ich bin im Innern einer Flussröhre. Sie ist ein riesiger Tunnel; es ist wie eine Fahrt in der Achterbahn. Ich könnte diesem Pfad um die ganze Sonne folgen.«
    Vielleicht. Ich weiß aber nicht, ob wir es so blumig ausdrücken sollten, Lieserl. Der Capcom hielt inne, und als er weitersprach, klang er betont verbindlich, als ob er angewiesen worden wäre, nett zu ihr zu sein. Wir freuen uns, dass du dich… äh… in deinem Ich glücklich fühlst, Lieserl.
    »In meinem neuen Ich. Kann sein. Nun, gegenüber dem alten stellt es durchaus eine Verbesserung dar; das musst du zugeben.«
    Ja. Ich möchte, dass du dich daran erinnerst, wie du in das System geladen wurdest. Schaffst du das?
    »Das Laden? Warum?«
    Komm schon, Lieserl. Das ist doch nur ein weiterer Test.
    »Was wird denn da getestet?«
    Deine Spur-Funktionen. Wir wollen wissen, ob…
    »Meine Spur-Funktionen. Du meinst mein Gedächtnis.«
    …Ja. Immerhin war er so taktvoll, verlegen zu klingen. Denke zurück, Lieserl. Kannst du dich erinnern?
    Das Laden…

    Es war ihr neunzehnter Tag, ihr neunzehntes physikalisches Jahr. Sie war unglaublich schwach – sie konnte nicht einmal gehen, essen oder sich waschen.
    Sie hatten sie zu einer Raumstation in der Nähe der Sonne gebracht. Fast hätten sie sie noch zu spät geladen; sie waren in größter Sorge, als sie sich irgendwie eine Lungeninfektion zuzog, die sie beinahe umgebracht hätte.
    Sie wollte sterben.
    Physikalisch war sie der älteste Mensch im gesamten Sonnensystem. Sie fühlte sich, als ob sie unter Wasser wäre: Sie konnte kaum etwas fühlen, schmecken oder sehen, als ob sie in einer dämpfenden, viskosen Flüssigkeit eingeschlossen wäre. Und sie erkannte, dass ihr Verstand ausfiel.
    Es ging so schnell, dass sie es spüren konnte. Es war wie ein gespenstisches Zurückspulen ihrer beschleunigten Kindheit. Bei jedem neuen Erwachen stellte sie einen fortschreitenden Verfall fest. Sie fürchtete sich mittlerweile vor dem Schlaf, konnte ihm aber nicht entrinnen.
    Sie konnte die Würdelosigkeit des Vorgangs nicht ertragen. Alle anderen waren unsterblich und jung; und die Technologie, die das geleistet hatte, wurde nun eingesetzt, um Lieserl zu töten. Sie hasste alle, die sie in diese Lage gebracht hatten.
    Ihre Mutter besuchte sie ein letztes Mal, ein paar Tage vor dem Laden. Lieserl konnte mit ihren zerstörten, rheumatischen alten Augen Phillida kaum erkennen – diese junge, weinende Frau, war nur ein paar Monate gealtert, seit sie ihr Baby in die Sonne gehalten hatte.
    Lieserl verfluchte sie und schickte sie weg.
    Schließlich wurde sie in ihrem Bett zu einer Transmutationskammer im Zentrum der Station gebracht.

    Erinnerst du dich, Lieserl? War es – kontinuierlich?
    »…Nein.«
    Es war eine Explosion der Sinne.
    Mit einem Mal war sie wieder jung, alle Sinne waren wieder wie neu. Ihre Augen waren scharf, ihr Gehör unglaublich fein. Und langsam, ganz langsam spürte sie neue Sinne – übermenschliche Sinne. Sie konnte das düstere infrarote Glühen der Rümpfe und Köpfe der Leute erkennen, die an der Hülle ihres aufgegebenen Körpers arbeiteten, das Funkeln der Gammateilchen aus der Photosphäre der Sonne, die den Schirm der Station durchdrangen.
    Sie hatte ihre menschlichen Erinnerungen zwar behalten, aber sie unterschieden sich qualitativ von den Erinnerungen, die sie jetzt anhäufte. Begrenzt, partiell, subjektiv, unvollständig gespeichert: wie verblassende Bilder, dachte sie.
    …Mit Ausnahme vielleicht dieses einen, goldenen Tages am Strand.
    Sie musterte die Hülle ihres Körpers. Jetzt implodierte sie fast sichtbar, leer…
    »Ich erinnere mich«, meldete sie dem Capcom. »Ja, ich erinnere mich.«

    Nun beschrieb die Flussröhre eine Rechtskrümmung; und als sie ihr folgte, erkannte sie, dass sie sich auf einer spiralförmigen Bahn bewegte. Sie entspannte sich, ließ sich einfach treiben und

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