Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
beobachtete, wie sich die Höhlenwelt unter der Röhre um sie drehte. Sie sah, dass die benachbarten Flussröhren sich auch zu Spiralen verdreht hatten; sie folgte einem Strang in einem Tau aus verdrillten Flussröhren.
Lieserl, was ist los? Wir stellen fest, dass sich deine Flugbahn schnell ändert.
»Mir geht es gut. Ich bin jetzt in einer Flussröhre, das ist alles…«
Lieserl, du solltest dort verschwinden…
Sie ließ sich von der Röhre herumwirbeln. »Warum denn? Das kommt doch gut.«
Vielleicht. Aber es war keine gute Idee von dir, die Oberfläche zu durchbrechen; wir machen uns Sorgen wegen der Stabilität des Wurmlochs…
Lieserl seufzte und verlangsamte ihren Flug. »O verdammt, du Langweiler. Es hätte mir echt gefallen, mitten aus einer Sonne herauszukommen. Was für ein großartiger Trip.«
Wir haben die Tests noch nicht abgeschlossen, Lieserl.
»Was soll ich tun?«
Nur noch einen…
»Sag’s mir einfach.«
Lass einen kompletten Selbsttest laufen, Lieserl. Nur ein paar Minuten… Stoße die Virtuellen Konstrukte ab.
Sie zögerte. »Weshalb? Die Systeme funktionieren doch einwandfrei.«
Lieserl, du solltest es mir nicht so schwer machen. Der Capcom klang defensiv. Das ist eine Standard-Testreihe für jeden KI, der…
»Na schön, verdammt.«
Sie schloss die Augen, und mit einer plötzlichen, impulsiven Willensanstrengung ließ sie ihr Virtuellbild – die Illusion eines sie umhüllenden menschlichen Körpers – zerfallen.
Es war wie das Erwachen aus einem Traum: ein leichter, angenehmer Kindheitstraum, und als sie aufwachte, war sie in einer Maschine eingeschlossen, einem kruden Konstrukt aus Schrauben und Kabeln und Stangen.
Sie musste erst einmal überlegen, wo sie überhaupt war.
Das viereckige Interface des Wurmlochs war im Innern der Sonne fixiert. Das dünne, extrem heiße Gas der Konvektionszone strömte in seine vier dreieckigen Seiten, so dass das Interface von einer Skulptur aus einfließendem Gas umgeben war, einer Blume, die dynamisch aus der Masse der Sonne geformt wurde und die das Interface selbst fast verdeckte. Sie wusste, dass Sonnen-Materie durch das Wurmloch zum zweiten Interface in der Sonnenumlaufbahn gepumpt wurde; aus dem driftenden Tetraeder stiegen flammend Gase aus der Konvektionszone auf und verwandelten es in eine zweite, kleine Sonne, um die herum menschliche Habitate errichtet werden konnten.
Durch das Abpumpen des Gases und die von ihm abgeführte Wärme kühlte sich das Interface selbst ab und konnte so seine Existenz sichern – mit seiner wertvollen, empfindlichen Fracht an Datenbeständen…
Die Bestände, die ihr, Lieserls, Bewusstsein enthielten.
Sie inspizierte sich auf vielen Ebenen gleichzeitig.
Auf der physikalischen Ebene studierte sie sich verschiebende und miteinander verschmelzende Datenmatrizen. Darüber befand sich die logische Struktur der Datenspeicherung und Zugriffspfade, welche die Komponenten ihres Geistes darstellten.
Gut… Gut, Lieserl. Du schickst uns gute Daten. Wie fühlst du dich?
»Das fragst du mich laufend, verdammt. Ich fühle mich…«
Verstärkt…
Nicht länger gefangen in einem einzigen Punkt, in einem Knochengerüst hinter Augen aus Gelatine.
Was machte ihr Bewusstsein aus? Es war die Fähigkeit, die Vorgänge in ihrem Geist und in ihrer Umwelt zu erkennen und zu begreifen, was sich in der Vergangenheit ereignet hatte.
Jeder Test hatte belegt, dass sie über ein höheres Bewusstsein als alle anderen Menschen verfügte – weil sie eine größere Maschinerie des Bewusstseins hatte.
Sie hatte ein überragendes Bewusstsein – jedem Menschen überlegen, der bisher gelebt hatte.
Falls sie, wie sie mit Unbehagen sinnierte, überhaupt noch menschlich war.
Gut. Gut. In Ordnung, Lieserl. Wir müssen weiterarbeiten.
Erneut ließ sie ihr Bewusstsein in eine virtuellmenschliche Form implodieren. Sofort verengte sich ihr Wahrnehmungsspektrum wieder. Der Blick durch quasi-menschliche Augen war tröstlich – und doch, so dachte sie, eingeschränkt.
Vielleicht würde es nicht mehr lange dauern, bis sie bereit war, auch diesen letzten Rest Menschlichkeit abzulegen. Und was dann?
Lieserl?
»Ich höre dich.«
Sie richtete das Gesicht auf den Kern.
»Die Sache hat einen Sinn, Lieserl«, sagte ihre Mutter. »Eine Rechtfertigung. Du bist nicht nur ein Experiment. Du hast eine Mission.« Sie deutete auf die ausgedehnten, freundlichen Gebäude, aus denen das Anwesen bestand. »Die meisten Leute hier, besonders die
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