Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
Ausweg.
Chronologisch war sie neunundsiebzig Jahre alt, biologisch achtunddreißig. Sie war eine EFT-Schiff-Pilotin; seit zehn Jahren hatte sie Stückgut von den inneren Welten zu den neuen Kolonien geflogen, die sich um Port Sol im Kuiper-Gürtel konzentrierten.
Weil sie nach dem ›Just in Time‹-Prinzip arbeitete, waren ihre Vorräte begrenzt. Sie würden bald zur Neige gehen. Aber sie wollte auch nicht zu einer besetzten Erde zurückkehren und sich dort internieren lassen. Das würde sie seelisch nicht verkraften.
Noch jenseits des Saturnorbits warf sie die Ladung über Bord und startete ein langes Bremsmanöver.
Sie bestrich den Himmel mit Nachrichten-Lasern. Es musste noch andere dort draußen geben, andere wie sie, die über den besetzten Welten gestrandet waren.
Nach ein paar Tagen, als die Sonne noch immer als bloßer Funke vor ihr stand, erhielt sie eine Antwort.
Chiron…
Sie aktivierte den EFT-Antrieb und jagte durch, den Orbit um Saturn.
* * *
Chiron war ein Eis-Zwerg, ein schmutziger Schneeball mit einem Durchmesser von ungefähr dreihundert Kilometern. Er pendelte auf einer elliptischen Bahn zwischen den Orbits von Saturn und Uranus hin und her. Eines Tages würden die Schwerefelder der Gasriesen ihn endgültig aus dem System hinausschleudern.
Der Verlust Chirons wäre zu verschmerzen gewesen.
Als Gage sich dem Himmelskörper näherte, sah sie ein Dutzend EFT-Schiffe wie abgebrannte Streichhölzer um die Mini-Welt treiben. Es hatte den Anschein, als ob die Schiffe ausgeschlachtet und die Komponenten ins Innere des Monds gebracht worden wären.
Die virtuelle Projektion eines Männerkopfs platzte mitten in Gages Kabine. Der körperlose Kopf beäugte Gage in ihrem Pilotenkokon. Die flirrenden Pixel des Kopfs vergrößerten sich, als ob sie sich mit Blut füllten. Vor dem geistigen Auge sah Gage einen Strom von Daten, die zur Oberfläche der Eiswelt übertragen wurden.
»Ich bin Moro. Du scheinst sauber zu sein.« Biologisch sah er wie vierzig aus, mit hoher Stirn, pechschwarzen Augenbrauen und einem schwach ausgeprägten Kinn.
»Da bin ich aber froh.«
»Du hast Landeerlaubnis. Nur Nachrichten-Laser, keine Breitbandübertragung.«
»Natürlich…«
»Ich bin ein semi-empfindungsfähiger Virtueller. Kopien von mir sind im ganzen Schiff verteilt.«
»Ich mach schon keinen Ärger«, sagte sie müde.
»Ich will’s hoffen.«
Mit Moros Pixel-Augen im Rücken landete sie das EFT-Schiff in einer weiten Kurve auf der Oberfläche des Eis-Monds und schaltete das Triebwerk für immer aus.
* * *
Sie betrat die uralte Oberfläche von Chiron.
Das Eis hatte eine kräftig rote Farbe und eine purpurne Maserung aus organischen Verbindungen. Obwohl der Anzug gut isoliert war, gab er noch immer so viel Wärme ab, dass bei jedem Schritt Stickstoffwölkchen aufwallten und Krater ins Eis gebrannt wurden. Die Gravitation betrug nur ein paar Hundertstel Ge, und die marsgeborene Gage hatte das Gefühl zu fliegen.
Sie wurde vom Moro aus Fleisch und Blut empfangen.
»Du bist größer, als du im TV wirkst«, sagte sie.
Zur Begrüßung richtete er eine Waffe auf sie und hielt sie im Anschlag, während ihr Schiff inspiziert wurde.
Schließlich nahm er die Pistole herunter und ergriff ihre beschuhte Hand. »Ich heiße dich hier willkommen.« Dann führte er sie ins Innere von Chiron.
Gänge waren ins Eis gefräst und mit Druck beaufschlagt worden. Die Wände bestanden aus blankem Chiron-Eis, das man versiegelt und mit einer Isolierung aus transparentem Kunststoff überzogen hatte. Sie waren glatt und hart.
Moro öffnete den Helm und lächelte sie an. »Such dir erst mal eine Schlafgelegenheit. Dann holst du alles aus dem Schiff, was du noch brauchst. Morgen werde ich dich einer Arbeitsgruppe zuteilen; es gibt viel zu tun.«
Arbeitsgruppe?
»Ich bin doch keine Kolonistin«, knurrte sie. »Richtet ihr euch etwa auf einen längeren Aufenthalt ein?«
Sie fand eine Unterkunft, einen grob ins Eis gehauenen Würfel. Dann brachte sie ihre persönlichen Gegenstände in die Kabine – virtuelle Kopien ihrer Eltern auf dem Mars, Bücherchips und ein paar Kleidungsstücke. Ihre Sachen wirkten schäbig und antiquiert, irgendwie fehl am Platz.
* * *
Etwa hundert Menschen hatten in der kleinen Welt Zuflucht gefunden. Fünfzig stammten von einem Schiff, das vom Mars zum Saturn unterwegs gewesen war, und der Rest bestand aus Einzelpersonen und Paaren, die sich an Bord flüchtiger EFT-Frachter befunden hatten – wie
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