Xperten - Der Anfang: Kurzgeschichten
Lebern könnten wir mehr trinken. »Es« würde schneller abgebaut.
5.4 Ist Diskussion ohne Hass möglich?
Ein »Diskussionsclub« in Oxford um 7 Uhr abends. Zwei Studenten, Hill und Brafford, stehen sich gegenüber. Das heutige Thema ist Atomenergie. Hill zieht eines von zwei Kuverts, die ihm der Diskussionsleiter anbietet, öffnet es. »Pro Kernenergie« steht auf dem Zettel im Kuvert. Die Entscheidung ist damit gefallen: Hill vertritt heute den Standpunkt pro, Brafford den Standpunkt kontra Kernenergie.
Die Diskussion verläuft spannend, gute Argumente werden von beiden Seiten hervorgebracht. Brafford diskutiert eloquenter, schärfer, geschliffener; er »gewinnt« die Diskussion. Wahrscheinlich hätte er auch gewonnen, hätte er die entgegengesetzte Ansicht, also pro Kernenergie, vertreten. Nach Beendigung der Diskussion ist mir unklar, ob Brafford nun eigentlich in Wirklichkeit für oder gegen Kernenergie ist. Ich frage ihn. Er zuckt die Schultern: »Die Wahrheit liegt meiner Meinung nach eher in der Mitte«, meint er, »klassische Kernreaktoren scheinen bei entsprechend strengen Sicherheitsvorschriften eher risikoärmer Strom zu erzeugen als konventionelle Kraftwerke. Bei schnellen Brütern ist es aber vermutlich umgekehrt. Aber darum geht es nicht. Wir wollen hier nur lernen, die Argumente beider Seiten möglichst gut zu verstehen und vorzubringen. Eine endgültige ‚objektive‘ Wahrheit gibt es oft nicht, sondern die letzte Entscheidung wird von persönlichen Einstellungen abhängen müssen.«
Schade, dass wir nicht auch in anderen Ländern systematisch lernen, emotionslos über wichtige Aspekte zu diskutieren, uns bemühen, alle Pro- und Kontra-Argumente zu verschiedensten Thesen kennen zu lernen! Tatsächlich ist das Diskutieren in z.B. Österreich aus zwei Gründen schwierig: Der erste ist, dass die Kunst, rational und klar zu diskutieren, wenig geübt wird. Oft werden gute Argumente durch »ich bin überzeugt, dass …« ersetzt, wobei diese Überzeugung nicht weiter hinterfragt werden darf. Der zweite Grund, warum das Diskutieren in Österreich schwierig, ja gefährlich ist, erscheint mir besonders besorgniserregend. Häufig wird jemand, der auch nur in einem Punkt eine andere Meinung vertritt, sofort als »Feind«, als jemand, »mit dem man nicht diskutieren kann«, eingestuft, abgestempelt!
Für ein vernünftiges, offenes Zusammenleben ist es notwendig, dass wir Personen, die in einigen Punkten eine andere Meinung vertreten, nicht als Feinde oder Sonderlinge behandeln, sondern dass wir in der Lage sind, sie trotz abweichender Ansichten als Freunde zu akzeptieren. Sind wir dazu nicht bereit (und ich fürchte, viele Österreicher sind es nicht, ja sind sich nicht einmal dieser Problematik bewusst), dann hören wir am besten auf zu diskutieren. Es gibt nämlich kaum zwei Menschen in der Welt, die in allen wichtigen Punkten übereinstimmen, wie ein einfaches Rechenexempel zeigt. Nehmen wir an, es gäbe nur sechzig wichtige Themen, für die man »pro« oder »kontra« sein kann, und nennen wir jede Kombination von 60 Pro’s und Kon’s ein »Gesamtweltbild«.
Dann gibt es 2 hoch 60, das sind zirka 10 hoch 20, das sind 100.000.000.000.000.000.000 verschiedene Gesamtweltbilder, um einen Faktor von zirka 20 Milliarden mehr »Gesamtweltbilder«, als es Menschen gibt!! Die Wahrscheinlichkeit, dass also zwei Personen gleiche Weltbilder haben, ist winzig klein!
Wir müssen daher akzeptieren, dass auch alle jene Leute, die uns lieb und sympathisch sind, in vielen Punkten unsere Meinung nicht teilen werden. Dass uns dies so selten bewusst wird, liegt daran, dass wir häufig vorsichtig sind, bereit sind eher zu schweigen als zu riskieren, dass wir uns eine »Freundschaft« durch eine andere Meinung zu einem bestimmten Thema verscherzen!
Natürlich betreffen die angestellten Beobachtungen besonders auch mich, als Autor von vielen Beiträgen. Selbst wenn ich davon ausgehe, dass jeder meiner Ansichten mehr als die Hälfte der Leser zustimmt, gibt es natürlich keinen Leser, der in allen Punkten meine Ansichten teilt! Allerdings bin ich vorsichtig gewesen und werde es auch bleiben. Von Zeit zu Zeit vertrete ich eine These (ganz im Sinne eines Oxforder Diskussionsclubs) so gut ich kann, ohne dass ich notwendigerweise persönlich diese These für richtig halte …
Um es besonders verwirrend zu machen: Vielleicht gehört dieser Beitrag gerade zu jenen, an die ich selbst nicht glaube?
5.5 Sind Journalisten
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