YANKO - Die Geschichte eines Roma
viele verrückte Sachen mit seinem Bruder erlebt, aber das war jetzt doch etwas zu viel auf einmal. In seinem Kopf rotierte es wild, und er rekapitulierte immer wieder, was Yanko da eben zu ihm gesagt hatte und überlegte dabei fieberhaft, ob er sich nicht vielleicht doch verhört hatte. Langsam stand er auf und stellte sich neben seinen Bruder. Sie schwiegen lange und schauten dabei über den See.
Yanko bekam wieder das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen nachgab, und er langsam aber sicher darin versank. Es war tatsächlich so. Eben hatte er es in die Wirklichkeit geholt. Er hatte ihr Geheimnis jemandem mitgeteilt. Ihn schauderte. „Was soll ich denn jetzt machen?“ Yanko hatte plötzlich Tränen in den Augen, und er fühlte wieder die Panik in sich aufsteigen. Langsam wischte er die Tränen weg, doch die Angst kroch ihm weiterhin kalt unter die Haut. Keith streichelte ihm mit einer Hand über den Rücken. „Wer ist es denn?“, fragte er leise. „Ron.“, sagte Yanko nur. Keith atmete hörbar tief durch und begann auf der Veranda auf und ab zu gehen. „Wow!!! Das ist allerdings ein Megading!!!... Das kannRon den Kopf kosten!!“ Yanko wurde plötzlich nervös. „Keith, ich bitte dich, behalte es für dich, wenn es geht! Sonst ist es mir ja egal, was die Leute denken und sagen, aber diesmal hängt viel mehr dran! Es könnte echt gefährlich für ihn werden.“ „Ja klar, keine Sorge!“, beruhigte ihn Keith. Er ging auf Yanko zu und drehte ihn zu sich um. Er schaute ihn durchdringend an, und es wurde ihm schnell klar, dass es Yanko wirklich erwischt hatte. „Mist, dir ist es echt ernst... Wie ist das denn passiert?“ Yanko wendete den Blick ab und murmelte: „Es ist eben passiert. Ich liebe ihn halt.“ „Und wie lange geht das schon so?“ Yanko spürte, dass sich trotzallem etwas in ihm entspannte, es tat ihm gut darüber zu sprechen. „Zehn Monate.“ Keith schaute ihn erneut unglaubwürdig an. „Was??... So lange schon? Und Marianna?“ „Es läuft nicht gut, aber es hat uns noch niemand erwischt, sonst wüsste es wohl schon jeder hier...“ Keith legte einen Arm um seinen Bruder. „Und wie geht’s dir damit?“ „Beschissen!“ Yanko machte sich los und holte seine Stiefel aus dem Haus. Er setzte sich auf den Stuhl und zog sie an. Keith musste unwillkürlich ein bisschen lachen, das war einfach zu verrückt für ihn. „Das ist echt der Hammer!!... Vielleicht solltet ihr woanders hingehen?“ Yanko stand auf. „Ich muss jetzt zu den Pferden.“ Er hatte genug gesagt. „Keine Angst, ich sag’ schon nichts!“ Yanko blickte ihn kurz an. „Danke!“ Und dann umarmten sie sich zum Abschied.
Doch als Keith schon fast an seinem Auto war, kam Yanko plötzlich hinter ihm hergelaufen. „Hey... Bruder... Hat gut getan mir Luft zu machen!“ „Weißt du das immer noch nicht?“ Keith lächelte und fuhr schließlich davon.
Yanko ging nachdenklich zurück ins Haus und packte ein paar Sachen ein. Er musste raus. Nach draußen an die Luft, nur er, sein Pferd und die Berge.
Er sattelte sein Pferd und ritt los. Er genoss die Landschaft und fühlte sich etwas besser. Reiten war schon immer die beste Medizin für ihn gewesen. Seinen Gedanken ließ er freien Lauf, denn er war viel zu müde, um sie aufzuhalten.
Unwillkürlich tauchte Fam wieder in seinen Erinnerungen auf. Ihre erste Begegnung. Fast schien es ihm, als kämen die Bilder aus einem anderen Leben, oder überhaupt aus dem Leben. War er nicht erst richtig zum Leben erweckt worden, als er sie kennengelernt hatte? Aber es gab keinen Bruch, keine Lücke in seinem Kopf. Es musste also das gleiche Leben gewesen sein. Ein Traum wäre ihm lieber gewesen. Ein Traum, aus dem er nun endlich aufwachen würde – aus einem langen, kalten und qualvollen Traum. Gehörte sein Leben bevor er sie traf auch zu diesem dunklen Traum? Nein, da war mal etwas gewesen, das sich nach Wärme und Lachen anfühlte. War er der kleine Junge, der mit seinen Freunden ausgelassen durch die Wälder tobte und in den Wellen tauchte? Wo war er nur geblieben? Er hatte ihn schon lange verloren.
Stundenlang kauerte er schließlich an Fams Grab. Er war lange nicht hier gewesen. Hier bei ihr konnte er die Ruhe immer noch spüren, die ihn damals so plötzlich erfüllt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegneten.
Und dann bohrte sich der Schmerz über ihren Verlust wieder durch seinen Körper, wie ein abgeschossener Pfeil sein Ziel.
I m nächsten Juni flimmerte die Luft
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