Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
Und das war ein Fehler.
Als sie die blutigen Schrammen an meinem Handgelenk sah, stockte ihr der Atem. Hastig zog ich den Ärmel darüber.
„Das sind nur Kratzer.“
„Was ist passiert? Und versuch ja nicht, mich zu beschwindeln“, befahl sie mir.
Also erzählte ich ihr in wenigen Worten, was mir zugestoßen war – und beschwindelte sie nur ein bisschen. „Er wird mich nicht mehr belästigen.“
„Das wird auch nicht mehr passieren. Du kommst mit uns nach Hause“, erklärte sie.
Nach den Erlebnissen dieses Morgens hätte ich ihr beinahe zugestimmt. „Was soll ich denn da tun?“
„Deinem Vater helfen, Pflanzen zu sammeln. Oder mich bei der Parfümherstellung unterstützen. Der Gedanke, dich noch einmal zu verlieren, ist mir unerträglich.“
„Aber damit musst du leben, Mutter. Ich werde nicht vor schwierigen oder gefährlichen Situationen davonlaufen. Außerdem habe ich einige Versprechen gegeben – mir und auch ein paar anderen. Ich muss das einfach durchstehen, denn wenn ich weglaufen würde, könnte ich nicht mehr in den Spiegel schauen.“
Eine Brise brachte die Blätter zum Rascheln, und der Schweiß auf meiner Haut fühlte sich wie Eis an. Meine Mutter hüllte sich tiefer in den Umhang. Ich spürte ihre Emotionen, die sie wie festgezurrte Knoten umschnürten. Sie befand sich an einem fremden Ort und musste mit der Erkenntnis fertig werden, dass ihre Tochter sich freiwillig für andere Menschen in Gefahr begab und sie sie erneut verlieren konnte. Die Angst trieb sie fast in den Wahnsinn. Dabei wollte sie doch nur die Sicherheit ihrer Familie und ein behagliches Zuhause für alle.
Plötzlich kam mir eine Idee. „Nuttys Umhang erinnert mich an den Dschungel“, sagte ich.
Sie schaute ihren Mantel an. „Wirklich?“
„Er hat dieselbe Farbe wie die Unterseite eines Ylang-Ylang-Blatts. Erinnerst du dich noch daran, wie wir auf dem Weg vom Markt nach Hause in das Unwetter geraten sind und uns unter ein großes Ylang-Ylang-Blatt gestellt haben?“
„Dass du das noch weißt.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht.
Ich nickte. „Meine Kindheitserinnerungen sind wieder in mein Bewusstsein zurückgekehrt. Und die hätte ich nicht, wenn ich nicht das Risiko eingegangen wäre, Irys in die Avibian-Ebene zu folgen.“
„Du warst im Flachland?“ Das Entsetzen in ihrer Miene wich einem Ausdruck des Respekts. „Du fürchtest dich wohl vor gar nichts, stimmt’s?“
„Ich kann dir mindestens fünf Ereignisse nennen, die mir auf dieser Reise begegnet sind und vor denen ich Angst hatte.“ Vor allem davor, dass mir Mondmann mit seinem Krummsäbel den Kopf abhacken würde, aber ich hielt es für besser, meiner Mutter diese Episode zu verschweigen.
„Warum bist du dann überhaupt gegangen?“
„Weil wir gewisse Dinge in Erfahrung bringen mussten. Ich konnte mich von meiner Angst nicht davon abhalten lassen, das zu tun, was ich tun musste.“
Stumm dachte sie über meine Worte nach.
„Dein Umhang schützt dich vor mehr als nur dem Wetter“, sagte ich. „Wenn du die Taschen mit speziellen Dingen von zu Hause füllst, kannst du dich mit dem Urwald umgeben, wann immer du dich unwohl oder verängstigt fühlst.“
„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“
„Ich habe sogar etwas, das du in deine Tasche stecken kannst und dich an mich erinnert. Komm mit.“ Ohne auf sie zu warten, kletterte ich hinunter, hielt mich am untersten Ast fest und ließ mich zu Boden fallen.
Während ich meinen Rucksack durchsuchte, hörte ich über mir ein Rascheln. Ich blickte hoch und sah, wie meine Mutter am Stamm hinabglitt. In einer der Rucksacktaschen fand ich mein Feueramulett. Bei all den Schwierigkeiten, die ich in jüngster Zeit hatte, war das Amulett bei meiner Mutter gewiss besser aufgehoben.
„Ich habe es in einem Abschnitt meines Lebens gewonnen, als Angst mein ständiger Begleiter war.“ Ich drückte es ihr in die Hand. Es war der erste Preis für einen Akrobatenwettbewerb beim alljährlichen Feuerfest in Ixia gewesen. Und obwohl ich danach die schlimmste Zeit meines Lebens durchgemacht hatte, wäre ich ohne zu zögern sofort noch einmal bei diesem Wettbewerb angetreten, selbst jetzt, da ich wusste, was mich danach erwartete.
Ich drückte meiner Mutter das Amulett in die Finger. „Das ist eines der vier Dinge, die mir sehr am Herzen liegen. Ich möchte es dir geben.“
Sie betrachtete das Feueramulett. „Und was sind die anderen drei?“
„Mein Schmetterling und mein Schlangenreif.“
Weitere Kostenlose Bücher