Yelena und die Magierin des Südens - Snyder, M: Yelena und die Magierin des Südens
mitzuwirken.
Inzwischen verursachte mir die Erinnerung an meine Dankbarkeit und Naivität Übelkeit. Das war vor drei Jahren gewesen. Ich war ein dummes Hündchen, das selbst dannnoch freudig mit dem Schwanz wedelte, als der Sack, in den man es gesteckt hatte, zugebunden wurde.
Zwei Jahre lang dauerte mein Martyrium. Mein Verstand schreckte vor der Erinnerung zurück. Ich betrachtete Brazell, der mit zusammengepressten Lippen am Tisch saß. Seine Wangenmuskeln zitterten. Er bemühte sich, seine Hassgefühle im Zaum zu halten. Wie durch einen Nebelschleier sah ich Reyads Geist hinter seinem Vater auftauchen. Reyads Kehle war aufgeschlitzt. Blut tropfte auf den Boden und befleckte sein Nachtgewand. Unwillkürlich fiel mir eine Geschichte ein, in der die Opfer ihre Mörder heimsuchten, bis sie sich an ihnen für die Tat rächen konnten.
Ich rieb mir die Augen. Bemerkte sonst noch jemand die Erscheinung? Falls ja, wussten sie es sehr gut zu verbergen. Ich schaute zu Valek hinüber. Wurde er auch von Geistern verfolgt? Konnte man jener alten Geschichte glauben, dann musste er sich ganzer Heerscharen von ihnen erwehren.
Es machte mir Sorgen, dass ich Reyad immer noch nicht losgeworden war, aber ich verspürte nicht die geringsten Gewissensbisse. Das Einzige, das ich bedauerte, war die Tatsache, dass ich Brazell nicht ebenfalls getötet hatte, als sich mir die Chance dazu bot. Außerdem tat es mir Leid, dass ich nicht in der Lage war, meine „Schwestern und Brüder“ im Waisenhaus vor dem schrecklichen Schicksal zu bewahren, das ihnen mit ihrem sechzehnten Geburtstag drohte. Und ich empfand tiefe Trauer darüber, dass ich May und Carra nicht hatte warnen und ihnen zur Flucht verhelfen können.
Die Stimme des Commanders riss mich abrupt aus meinen Gedanken.
„Eine Auseinandersetzung, Valek?“ Er seufzte wie ein nachsichtiger Vater. „Wie viele Tote?“
„Keine. Ich kann es schwerlich mit meinem Gewissen vereinbaren, Soldaten umzubringen, nur weil sie dem Befehl von General Brazell gehorchen, unsere neue Vorkosterin zu verfolgen und zu töten. Außerdem schien sie ihnen ohnehin gerade zu entkommen, als sie mir in die Arme lief. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen, denn sonst hätte ich niemals von dem Zwischenfall erfahren.“
Der Commander betrachtete mich eine Weile, ehe er sich an Brazell wandte.
Darauf hatte dieser offensichtlich nur gewartet. Wie von der Tarantel gestochen, sprang er von seinem Stuhl auf und schrie: „Sie soll sterben! Ich will ihren Tod. Sie hat meinen Sohn ermordet.“
„Aber das Neue Gesetzbuch …“, begann Valek.
„Zum Teufel damit! Ich bin General. Sie hat den Sohn eines Generals getötet – und jetzt ist sie hier …“ Vor lauter Erregung versagte ihm die Stimme. Seine Finger zuckten, als wollte er sie mir um den Hals legen und zudrücken. Reyads Geist schwebte hinter seinem Vater. Er hatte ein höhnisches Grinsen im Gesicht.
„Ich empfinde es als persönliche Schande, dass sie lebt“, tobte Brazell weiter. „Eine Beleidigung. Bildet einen anderen Gefangenen aus. Ich will ihren Tod!“
Instinktiv versteckte ich mich hinter Valeks Rücken. Die anderen Generäle nickten zustimmend. Vor lauter Angst wagte ich nicht, den Commander anzusehen.
„Sein Argument ist nicht von der Hand zu weisen“, sagte dieser gerade ohne die geringste Gefühlsregung in der Stimme.
„Bisher habt Ihr Euch immer streng an das Neue Gesetzbuch gehalten“, erinnerte Valek ihn. „Wenn Ihr jetzt davonabweicht, schafft Ihr einen Präzedenzfall. Abgesehen davon würdet Ihr die fähigste Vorkosterin töten, die wir jemals hatten. Ihre Ausbildung ist fast beendet.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Tablett mit kalten Speisen, das neben dem Commander stand.
Vorsichtig lugte ich hinter Valeks Schulter hervor, um die Reaktion des Commanders zu sehen. Gedankenverloren spitzte er die Lippen, während er über Valeks Einwand nachdachte. Ich verschränkte die Arme und grub die Fingernägel tief ins Fleisch.
Brazell, der den Stimmungsumschwung spürte, trat einen Schritt auf den Commander zu. „Sie ist klug, weil ich sie unterrichtet habe. Ich kann nicht glauben, dass Ihr diesen Emporkömmling, diese hinterhältige und boshafte Verbrecherin auch nur eine Minute lang …“ Brazell verstummte. Er hatte zuviel gesagt. Er hatte Valek beleidigt, und sogar ich wusste, dass der Commander sehr viel von Valek hielt.
„Lasst meine Vorkosterin in Frieden, Brazell.“
Erleichtert atmete ich
Weitere Kostenlose Bücher