Yelena und die Magierin des Südens - Snyder, M: Yelena und die Magierin des Südens
Stunden verbrachte ich in diesem Stuhl und durchforstete sämtliche Botanikbücher von der ersten bis zur letzten Seite, ohne fündig zu werden. Ich nahm mir fest vor, das Rätsel um die Schoten und Bohnen zu lösen und dabei mein eigenes Wissen zu vermehren. Meine anstrengende Arbeit unterbrach ich nur, um das Essen des Commanders zu probieren oder nachmittags um die Burg zu spazieren.
Vier Tage waren seit der Übung vergangen, und an diesemNachmittag spazierte ich ganz gezielt über die Anlage. Ich suchte nach einer Stelle, von der aus man einen Blick auf das Osttor hatte. Sie sollte jedoch so versteckt liegen, dass mich die Menschen, die das Tor passierten, nicht bemerkten.
Valek war immer noch nicht von seinem Ausflug zurückgekehrt. Am Abend zuvor war das einwöchige Feuerfest mit einer Abschlussfeier zu Ende gegangen. Rand, der sehr mitgenommen aussah, hatte mich am Morgen darüber informiert, dass Brazell und sein Gefolge endlich abreisen würden. Sie planten, die Burg durch das Osttor zu verlassen. Das wollte ich mit eigenen Augen sehen, und dafür benötigte ich den perfekten Platz.
Die Kasernen für die Soldaten des Commanders lagen im nordöstlichen und südwestlichen Bereich der Burganlage. Das Lförmige Gebäude der nordöstlichen Unterkunft erstreckte sich vom Nord- bis zum Osttor, und neben dem nach Osten ausgerichteten Teil des Gebäudes war ein großer rechteckiger Übungsplatz angelegt worden. Ein Holzzaun trennte das Lager vom übrigen Bereich ab. Vor diesem Zaun versammelten sich oft verschiedene Bewohner der Burg, um den Soldaten beim Training zuzuschauen. An diesem Nachmittag gesellte ich mich zu einer Gruppe von Zaungästen, die nicht nur eine gute Sicht auf das Kampftraining, sondern auch auf das Osttor hatten.
Rands Informationen erwiesen sich als richtig. Schon bald wurde ich mit dem Anblick einer Kompanie von grünschwarz gekleideten Soldaten belohnt. Brazell ritt auf seinem Apfelschimmel inmitten seiner vertrauenswürdigsten Ratgeber am Ende des Heerzugs. Sein Gefolge würdigte die Menschen ringsumher keines Blickes.
Während ich Brazells Rücken betrachtete, erschien ReyadsGeist neben mir. Er lächelte, als er seinem Vater zum Abschied zuwinkte. Ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Verstohlen blickte ich mich um. Bemerkte sonst noch jemand die Erscheinung? Die Gruppe, zu der ich gestoßen war, hatte sich aufgelöst. Oder hatte Reyad sie vertrieben? Doch als ich mich umdrehte, war er verschwunden.
Eine Hand berührte leicht meinen Arm, und ich zuckte zusammen.
„Die wären wir Gott sei Dank los“, sagte Ari mit einer Kopfbewegung zum Osttor. Jetzt, da ich ihn zum ersten Mal im hellen Tageslicht sah, stellte ich fest, dass seine Augen von einem so hellen Blau waren, dass sie bei Dunkelheit farblos zu sein schienen.
Ari und Janco standen auf der anderen Seite des Zaunes. Beide trugen die ärmellosen Hemden und kurzen Hosen, in denen die Soldaten am liebsten trainierten. Ihre Gesichter und ihre Körper, übersät von frischen Schrammen und Wunden, waren schweißgebadet und schmutzig.
„Ich wette, du bist genauso froh wie wir, dass sie abreisen“, sagte Janco. Er lehnte sein hölzernes Übungsschwert gegen den Zaun und wischte sich mit seinem Hemd den Schweiß aus dem Gesicht.
„Oh ja“, erwiderte ich.
Eine Weile standen wir in einträchtigem Schweigen beisammen und schauten auf das Osttor, durch das gerade die Letzten aus Brazells Gefolge ritten.
„Wir möchten dir danken, Yelena“, sagte Ari.
„Wofür?“
„Der Commander hat uns zu Captains befördert. Er sagt, du hättest nur Gutes über uns erzählt.“
Erfreut darüber, dass der Commander meinen Worten Beachtunggeschenkt hatte, lächelte ich ihnen zu. Es war offensichtlich, dass Ari und Janco einander treu ergeben und durch wahre Freundschaft und tiefes Vertrauen verbunden waren. Vor drei Jahren hatte ich im Waisenhaus die gleichen Gefühle gegenüber May und Carra empfunden, aber Reyad hatte mir den Umgang mit ihnen unmöglich gemacht, und die Leere, die diese Trennung in mir hinterlassen hatte, schmerzte noch immer. Rand hatte mir seine Freundschaft angeboten, aber zwischen uns herrschte nach wie vor eine gewisse Distanz. Wie gerne hätte ich mich jemandem tief und innig verbunden gefühlt. Doch mein Leben als Vorkosterin machte dies leider unmöglich. Wer würde schon eine echte Freundschaft mit mir schließen wollen, wenn die Chancen, dass ich das nächste Jahr überleben würde, ausgesprochen gering
Weitere Kostenlose Bücher