Yelena und die Magierin des Südens - Snyder, M: Yelena und die Magierin des Südens
und bedeutete Mia, hinter den Schreibtisch zu kommen. Auf Augenhöhe mit ihr, fragte er sie: „Wie lautet deine Version der Geschichte?“
Mit leiser, unsicherer Stimme antwortete sie: „Ich bin gut in Mathematik, Sir.“ Dann schwieg sie, als rechnete sie damit, für diese kühne Behauptung gerügt zu werden, doch als nichts dergleichen geschah, fuhr sie fort: „Ich fand es langweilig, die Aufgaben so zu lösen, wie Tutor Beevan es macht. Deshalb habe ich einen neuen und schnelleren Weg gefunden. Er ist nicht besonders gut im Rechnen, Sir.“ Wieder unterbrach sie sich verlegen, als erwarte sie eine Ohr feige. „Ich habe den Fehler begangen, ihn auf seine Irrtümer hinzuweisen. Es tut mir Leid, Sir. Bitte lasst mich nicht auspeitschen. Es soll nie wieder passieren, Sir. Ab sofort werde ich alles tun, was Tutor Beevan sagt.“ Jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
„Nein, das wirst du nicht tun“, erwiderte der Commander.
Das Mädchen blickte ihn entsetzt an.
„Hab keine Angst, Mädchen. Yelena?“
Vor lauter Schreck vergoss ich etwas von seinem Tee auf das Tablett, das ich in den Händen hielt. „Ja, Sir?“
„Hol Berater Watts.“
„Jawohl, Sir.“ Ich stellte das Tablett auf den Schreibtisch und eilte zur Tür hinaus. Ich war Watts einmal begegnet. Er war der Buchhalter des Commanders und hatte mir das Geld ausgezahlt, das ich als Flüchtling verdient hatte. Er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete, kam aber sofort mit mir, als ich ihn darum bat.
„Watts, brauchst du immer noch einen Assistenten?“, erkundigte sich der Commander.
„Jawohl, Sir“, erwiderte Watts.
„Mia, du hast einen Tag, um deine Kenntnisse zu beweisen. Wenn du Berater Watts nicht mit deinen mathematischen Fähigkeiten überzeugen kannst, musst du zurück in Beevans Klasse. Wenn du es schaffst , kannst du die Stelle haben. Einverstanden?“
„Jawohl, Sir. Vielen Dank, Sir.“ Mia strahlte übers ganze Gesicht, als sie Watts folgte.
Ich bewunderte den Commander, hatte ich doch einen anderen Ausgang der Diskussion erwartet. Dass er Mitleid mit Mia hatte, sich ihre Seite der Geschichte anhörte und ihr eine Chance gab, war das genaue Gegenteil von dem, womit ich gerechnet hatte. Warum gab sich ein so mächtiger Mann überhaupt mit solchen Kleinigkeiten ab? Außerdem riskierte er, Beevan und den Unterrichtskoordinator zu verärgern, indem er Partei für eine Schülerin ergriff und ihr den Rücken stärkte.
Nun musste sich der Commander wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch widmen. Deshalb schlüpfte ich leise aus dem Arbeitszimmer und ging in die Bibliothek, um weitere Nachforschungen anzustellen.
Bei Sonnenuntergang beschloss ich, ein vielversprechendes Botanikbuch mit in mein Zimmer zu nehmen. Ich scheute mich davor, in der Bibliothek ein Licht anzuzünden. Schließlich musste niemand wissen, dass ich mich hier aufhielt.
Auf dem Weg zu Valeks Privaträumen warf das Kerzenlicht unheimliche Schatten an die Wände der Korridore. Ich überlegte, ob es nicht besser sei, wieder in mein altes Zimmer im Dienstbotenflügel zu ziehen. Nach Brazells Abreise gabes keinen vernünftigen Grund für mich, länger bei Valek zu wohnen. Doch die Aussicht, allein in dem kleinen Zimmer zu hocken, wo ich mit niemandem über Gifte und ihre Anwendungen streiten und diskutieren konnte, verursachte ein seltsam leeres Gefühl in mir – es war der gleiche Schmerz, den ich in den vergangenen vier Tagen mal mehr und mal weniger intensiv gespürt hatte.
Kälte und Dunkelheit umfingen mich in Valeks Wohnung. Selbst überrascht über meine Enttäuschung, stellte ich fest, dass ich ihn vermisste. Verwundert schüttelte ich den Kopf. Ich und Valek vermissen? Nein. An so etwas durfte ich nicht einmal denken.
Stattdessen konzentrierte ich mich auf mein Überleben. Wenn ich ein Gegenmittel zu Butterfly Dust finden wollte, war es vielleicht keine so gute Idee, Bücher über Gegengifte in Valeks Wohnzimmer zu lesen. Natürlich lag die Entscheidung, bei ihm zu bleiben, nicht bei mir. Wenn Valek erfuhr, dass Brazell abgereist war, würde er mich wahrscheinlich ohnehin in mein Zimmer zurückschicken.
Nachdem ich die Lampen in Valeks Wohnung angezündet hatte, machte ich es mir mit dem Botanikbuch auf dem Sofa gemütlich. Aber Biologie war nie mein Lieblingsfach gewesen, und deshalb begannen meine Gedanken schon bald zu wandern. Und da ich mir keine besondere Mühe machte, mich zu konzentrieren, gab ich mich schon bald meinen Tagträumen
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