Yelena und die verlorenen Seelen - Snyder, M: Yelena und die verlorenen Seelen
der Zitadelle waren schmutzig und stumpf. Die grünen Adern wirkten wie Schimmel, und die ganze Stadt machte den Eindruck, als befände sie sich unter einer Glocke von Ruß. Der Dreck hatte sich in den Ritzen festgesetzt und die Fundamente befallen. Aller Glanz war aus der Stadt gewichen. Und das lag ganz gewiss nicht am Wetter.
Vor Schreck wäre ich fast gestolpert, als mir der erste Wurm aus Daviian entgegenkam. Schon bald sah ich sie überall. Vornübergebeugt wie alle Einwohner der Stadt lief ich weiter auf der Suche nach einem Weg oder einer Gasse, auf denen keine Würmer unterwegs waren. Das Blut pochte mir in den Ohren. Die Blicke der Würmer brannten sich in meine Seele hinein. Als ich eine Abkürzung zum Markt entdeckte, schlotterten mir die Knie vor Erleichterung. Eng an die Mauern gedrückt erreichte ich das Zentrum, wo ich die Menschen beobachtete, die zwischen den Marktständen umherliefen. Das allgegenwärtige Gefühl von Angst ließ sogar den Duft von Gewürzen und geröstetem Fleisch nicht so verführerisch erscheinen wie sonst.
Während ich die Einwohner betrachtete, entdeckte ich immer mehr Würmer. Als ich schließlich fand, wonach ich gesucht hatte, mischte ich mich unter die Käufer. Beim Anblick des zehnjährigen Jungen musste ich unwillkürlich lächeln. Ich hörte ihm zu, wie er mit dem Händler feilschte.
„Vier Münzen, das ist mein letztes Angebot“, sagte Fisk. Er klang wie ein Erwachsener.
„Damit kann ich meine Familie nicht ernähren“, entgegnete der Händler. „Aber weil du mein Freund bist, überlasse ich es dir für sieben Münzen.“
„Belladoora verkauft es für vier.“
„Schau dir doch nur die Qualität an. Hat meine Frau selbst gestickt. Sieh mal diese Feinheiten.“ Er hielt den Stoff hoch.
„Fünf, und keine Münze mehr.“
„Sechs – das ist mein letztes Angebot.“
„Schönen Tag, der Herr.“ Fisk machte Anstalten zu gehen.
„Warte!“, rief der Standbesitzer. „Na gut, fünf. Aber du stiehlst meinen Kindern das Brot aus dem Mund.“ Brummelnd packte er den Stoff in Papier, aber als der Junge ihn bezahlte, grinste er.
Ich folgte Fisk zu seiner Kundin. Die Frau gab ihm sechs Münzen, und er überreichte ihr das Paket.
„Entschuldige, mein Junge“, sprach ich ihn an. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Was kann ich für Euch tun?“, fragte er. Im selben Moment riss er schockiert die Augen auf. Verstohlen schaute er sich um, ehe er mich erneut ansah – dieses Mal mit sorgenvollem Blick. „Komm mit.“
Er führte mich zu einer düsteren Behausung in einer engen Gasse. Ich wartete in der Dunkelheit, während Fisk ein paar Laternen anzündete. Dichte Vorhänge vor den Fenstern gewährten weder Aus- noch Einblicke. In dem kahlen Zimmer standen nur ein paar Stühle.
„Hier treffen wir uns immer“, erklärte Fisk.
„Wer ist wir?“
Er lächelte. „Die Mitglieder der Helfergilde. Wir planen unseren Tag, teilen am Ende das Geld und hetzen über unsere Kunden.“
„Das ist ja toll.“ Ich war stolz auf Fisk und das, was er erreicht hatte. Aus dem verwahrlosten Bettlerjungen, den ich bei meinem ersten Besuch in der Zitadelle kennengelernt hatte, war ein nützliches Mitglied seiner Familie geworden.
Auch Fisks hellbraune Augen leuchteten vor Stolz. „Das habe ich alles dir zu verdanken – meiner ersten Kundin.“
Statt um Geld zu betteln hatten Fisk und die anderen Bettlerkinder damit begonnen, für die Kunden gute Geschäfte auszuhandeln, Pakete zu tragen und für einen kleinen Obolus alle Arten von Arbeiten zu erledigen.
Sein Grinsen erstarb. „Schöne Yelena, du solltest nicht hier sein. Auf deinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt.“
„Wie viel?“
„Fünf Goldstücke.“
„Mehr nicht? Ich dachte, ich wäre zehn oder fünfzehn wert“, neckte ich ihn.
„Fünf ist viel Geld. Für diese Summe würde ich es sogar meinem eigenen Cousin zutrauen, dass er dich verrät. Hier ist es gefährlich für dich. Und für alle anderen auch.“
„Was ist passiert?“
„Diese Sippenmitglieder der Daviianer. Sie haben die Herrschaft übernommen. Zuerst waren es nur ein paar, aber jetzt wimmeln die Straßen von ihnen. Es heißt, sie sollen für den Mord an den Sandseeds verantwortlich sein. Die Gerüchte versetzen alle in Angst und Schrecken. Sämtliche Bewohner der Zitadelle sind verhört worden, und ein paar Bettler sind spurlos verschwunden. Man erzählt sich, dass die Mitglieder der Ratsversammlung die Kontrolle verloren haben. Trotzdem
Weitere Kostenlose Bücher