Yoga Bitch
Prozent der Deutschen geben an, dass sie sich für das neue Jahr oft vornehmen, Stress zu vermeiden. Und genau aus diesem Grund erlahmt nach ungefähr drei Wochen das Durchhaltevermögen für das Projekt Sommerkörper.
Dieser Januar fing besonders hart an, und das hatte mit einer Entdeckung zu tun, die mir das neue Jahr schon nach zwei Tagen schenkte: mein erstes graues Haar. Nein, meine ersten drei grauen Haare. Sie lachten mir unter der unbarmherzigen Badezimmerbeleuchtung hämisch ins Gesicht. Okay, das ist genetisch , sagte ich mir, tief durchatmen, da kann man nichts machen . Außer es rauszureißen. Ich würde mich doch nicht mit Alterserscheinungen herumschlagen, die mit einem Ruck zu beseitigen waren. Ich hatte die Pinzette schon in der Hand, doch dann fiel mir so eine alte Volksweisheit ein: Für jedes gezupfte graue Haar wachsen drei neue nach. Mir war klar, dass das wahrscheinlich ein Irrglaube war, doch ich rief zur Sicherheit meine Mutter an.
»Ich habe gerade ein graues Haar entdeckt. Eigentlich ist es nicht grau, sondern weiß, und es ist erstaunlich borstig«, begrüßte ich sie.
»Hm, hm. Und jetzt willst du’s rausreißen und wissen, ob dann drei neue graue Haare nachwachsen?«
»Genau. Und ein bisschen drüber jammern will ich auch.«
»Reiß’ es nicht raus. Es stimmt zwar nicht, dass drei graue nachwachsen. Ich glaube, das ist im übertragenen Sinne gedacht, dass, wenn man zu viel über graue Haare nachdenkt, man sich noch älter fühlt. Ich würde dir gern sagen: ›mach’ dich nicht verrückt‹, aber ich habe geweint, als ich mein erstes graues Haar gesehen habe. Igno-rier’ es einfach. Wenn es nur eins ist, sieht man’s eh nicht.«
»Und wenn’s mehr werden?«, fragte ich nach.
»Mein Gott, dann färbst du sie einfach, wie Millionen andere Frauen auch. Ich weiß schon, wie das ist. Kennst du das Lied von Reinhard Mey?«
»Von wem?«
Doch sie sang schon schief in den Hörer: » …ein drittel Jahrhundert war es braun, nun ist es plötzlich grau … la lala la. Was mich am meisten daran wundert … ich weiß nicht einmal ganz genau … lalala … für welchen Kummer, welche Narbe … auf meinem Kopf dies Denkmal steht … la lala la … ich ahne nur, dass mit der Farbe … auch ein Stück meiner Jugend geht . «
»Sehr schön, Mama. Jetzt fühle ich mich besser.«
»Tja, je mehr graue Haare man hat, umso mehr Contenance braucht man. Tschühüss, ich muss zum Yoga.«
Ja, Yoga. Yoga im Januar ist besonders sinnvoll, wegen der GABA-Werte, also der Dinger, die für die gute Laune zuständig sind und bei braven Yogis höher liegen als bei Januar-Sofaleichen mit Puddingflecken auf der Jogginghose. Dieses neue Jahr und Jahrzehnt (!) war also das erste, das ich als Mitglied der weltweiten, stets wachsenden Yoga-Gemeinschaft beging. Amerikanische inner city kids , 6000-Dollar-die-Woche-Yoga-Retreats in Thailand, Ashrams in Indien, Studios von Argentinien bis Australien und Yoga-Wettbewerbe in Kalifornien – wir wurden immer mehr, und wir waren gut drauf. Nun ja, Letzteres war relativ: Ich lag als Sofaleiche mit Puddingflecken auf der Jogginghose herum, als ich im Fernsehen hörte, dass Yoga nun auch in der Dritten Welt an Popularität gewann. Dabei wurde unter anderem in den Slums von Nairobi seit Kurzem Yoga unterrichtet. Eine Frau, die davor kriminell und drogenabhängig gewesen war, sagte: » Bevor ich Yoga machte, konnte ich niemandem gerade in die Augen sehen.«
Ich richtete mich auf dem Sofa auf. Dabei fiel ein halber Keks zu Boden.
Yoga habe ihr das Leben gerettet, erzählte die Kenianerin. Sie ging nun jeden Tag in eine sehr spartanische Yoga-Halle, in der mehr als hundert Menschen übten. Am Wochenende unterrichtete sie selbst Häftlinge in einem Knast in Nairobi, und die Jungs schienen total dankbar. Die erlebten wahrscheinlich eine ganz andere Art von Yoga-Wolke. Während die Kenianer Yoga also gerade erst entdeckten, trieb es in Los Angeles, dem Vorzeige-Ashram des Kapitalismus, anscheinend immer neuere, seltsam bunte und besonders irre Blüten, wie Polly berichtete.
Heute fühlte ich in LA zum ersten Mal, dass ich dazugehöre. Ich meine, in Deutschland sehe ich aus wie eine Yoga Bitch, hier sehe ich aus wie eine normale, wenn auch sehr blasse, Südkalifornierin. Und dass ich in Sportklamotten durch die Stadt (also: vom Auto und zurück) laufe, stört niemanden. Alle nehmen an, ich sei auf dem Weg zum Sport.
Ich liebe die kleinen Freundlichkeiten hier, auch wenn ich
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