You are Mine
Erschöpfung, das Kopfweh, das dauernd in meinen Schläfen pocht, der entsetzliche Durst jeden Morgen, wenn ich aufwache, die ständigen Muskelschmerzen. Vielleicht ist es ja doch mehr als die Trauer im Endstadium, an dem ich erkrankt bin.
Aber zumindest sind die Stimmen verstummt – na ja, nicht die Stimmen, wenn ich wirklich ehrlich bin; nur die eine Stimme, ihre – und das muss doch ein gutes Zeichen sein.
Also was jetzt?
Ruth hat mich das mehr als einmal gefragt, die Besorgnis in ihrer Stimme allzu offensichtlich: Glaubst du nicht, dass du die Periode der jugendlichen Existenzängste langsam weit genug ausgereizt hast?
Und sie hat recht. Zum ersten Mal, seitdem ich die Kunstakademie verlassen habe, versuche ich, mir ernsthafte Gedanken über dieses schwammige Gebilde zu machen, die Zukunft. Meine Zukunft, mit all diesen schwarzen, nutzlosen Jahren, die sich vor mir bis zum Horizont erstrecken. Vielleicht zurück in die Schule, einen berufsvorbereitenden Kurs für irgendwas und dann ein Echter Beruf, ein Echtes Leben, die Art von Leben, auf das meine Eltern immer drängen. Mein siebenundzwanzigster Geburtstag steht bald vor der Tür und wenn ich noch länger warte, wird die Zeit zu schnell vergehen, sodass ich für den Rest meines Lebens DVD s in Regale zurückstelle und überfällige Gebühren eintreibe. Es ist ein schrecklicher Gedanke und genug, um mir Feuer unter dem Hintern zu machen.
Ich dusche und entscheide, Ruth anzurufen, um herauszufinden, ob sie immer noch ausgehen will und sei es nur zum Essen. Alles, um von hier zu entkommen, denn dieses leere Haus ruft einfach zu viel Klaustrophobie hervor, um es noch zu ertragen, gefangen in der kalten, grauen Umklammerung eines Winters in Melbourne, die Handtücher noch nass von gestern, während der Schimmel im Bad an der Decke den nächsten Angriff startet.
Aber an Ruths Handy springt direkt die Mailbox an und ich hinterlasse keine Nachricht. Das Haus ist still. Gleichgültigkeit dringt aus den Wänden wie alter Schweiß.
Wie auch immer, ich werde trotzdem rausgehen. Vielleicht steige ich in die Tram Richtung Innenstadt oder fahre raus an die Bucht, die bei diesem Wetter so gut wie menschenleer sein wird. Ein perfekter Ort, um meine Gedanken treiben zu lassen, um endlich den Anfang einer Zukunft zu planen.
∞
Am Wasser war es durch den scharfen, salzigen Seewind zu kalt, also zog ich mich stattdessen in ein Café in St. Kilda zurück. Ich suchte mir das aus, das am wenigsten so aussah, als würde es von Trendsettern und Hipstern frequentiert. Mein neues Buch, ein schwerer Bildband aus dem Kunstladen in der Fitzroy Street, liegt offen vor mir auf dem Tisch. Joel Peter Witkin, irgendein Fotograf, von dem ich noch nie gehört hatte: viel zu teuer, aber was soll’s. Weitere Aufnahmen von Leichen, die mich kurzfristig an Dante erinnern und an Madigan in ihrem feuerbeschienenen Kleid – hier ging es nie um die Kunst, es ging immer um mich –, aber es ist noch viel mehr darin: Freaks und Amputierte und einfach seltsames Zeug, das die Sinne verwirrt. Sie gefallen mir gut, diese seltsamen Gegenüberstellungen und krassen Kontraste. Eine armlose Frau im Korsett, der Rücken verbrannt, als hätte man ihr dort Flügel aus den Schultern gerissen, Vogelflügel, Engelsflügel; Missbildungen und fabelhafte Kostüme; ein Mann mit den Beinen eines Satyrs, riesig und pelzig und behuft; ein Hund, bei dem aus einer offenen Wunde am Bauch Früchte quellen, hündischer Überfluss, die toten Augen blicken wissend.
Während ich die Seiten umblättere, steigen in mir Pläne auf, wieder an die Kunstakademie zu gehen. Pinsel und Farbe eingetauscht gegen eine Kamera, deren starr blickende Linse die Bilder einfängt, über die meine ungeschulten Hände nur stolpern könnten. Es muss auch Arbeit in dieser Richtung geben, ein Job bei einem Fotostudio, das Familienporträts oder Schulfotos oder Babybilder in Einkaufszentren schießt; irgendetwas, das Geld für die Rechnungen bringt, während ich am Wochenende an meiner echten Kunst arbeite, eine Technik entwickle und sie perfektioniere.
In meiner Unterwäscheschublade liegen immer noch fünftausend Dollar – ich habe nicht einen Cent davon ausgegeben, habe das Geld nicht mal mehr angeschaut, aber wäre das nicht eine gute Sache, die Summe dafür zu verwenden? Für den Neuanfang, wegen dem mir Ruth ständig in den Ohren liegt, eine Chance, wirklich etwas Konstruktives zu tun? Schuldet Madigan mir nicht wenigstens das?
Schulde
Weitere Kostenlose Bücher