Young Sherlock Holmes 2
auf einem Pferd davonpreschte. In dem nun einsetzenden lautstarken Gefluche Crows waren Worte enthalten, die Sherlock bisher noch nie gehört hatte. Allerdings fiel es ihm trotzdem nicht sehr schwer, ihre drastische Bedeutung zu erraten.
Sherlock bückte sich, um den Gegenstand aufzuheben, der durchs Fenster geworfen worden war. Es handelte sich um einen Stein, ungefähr doppelt so groß wie eine geballte Faust. Mit Hilfe einer Schnur hatten der oder die Absender ein zerfetztes Stück Papier darum gebunden.
Mycroft nahm Sherlock den Stein aus der Hand. Er legte ihn auf den Tisch und schnitt mit einem Messer den Faden durch. »Es ist besser, die Knoten nicht zu lösen und sie aufzubewahren«, sagte er zu Sherlock. »Sie könnten uns etwas über den Mann verraten, der sie geknüpft hat. Seeleute zum Beispiel benutzen eine ganze Reihe spezieller Knoten, die normalen Leuten nicht bekannt sind. Solltest du mal ein paar Tage nichts zu tun haben, würde ich dir empfehlen, dich mal eingehend mit Knoten zu beschäftigen.«
Behutsam legte er die Schnur beiseite – vermutlich um sie später noch genauer zu untersuchen –, wickelte das Papier vom Stein und strich es dann auf der Tischfläche glatt.
»Sieht aus wie eine Warnung«, sagte er zu Crowe und begann laut vorzulesen.
»Wir haben euren Jungen. Hört auf, uns nachzustellen, und versucht nicht, uns weiter zu verfolgen. Wenn ihr uns in Ruhe lasst, bekommt ihr ihn zurück – in einem Stück und unversehrt. Tut ihr’s nicht, kriegt ihr ihn über mehrere Wochen verteilt in Portionen wieder. Ihr seid gewarnt.«
Crowe hielt Virginia in den Armen. »Offensichtlich denken sie, dass Matty mein Sohn ist, weil sie ihn gemeinsam mit Ginnie auf dem Pferd gesehen haben. Aber sie werden ihren Irrtum bemerken, sobald sie ihn sprechen hören.«
»Nicht unbedingt«, widersprach Mycroft. »Schließlich wissen sie nicht, wie lange Sie schon hier in England sind. Und sie sind sich wahrscheinlich noch nicht einmal darüber im Klaren, dass Sie Amerikaner sind. Ich glaube, unser junger Matty hat im Moment erst einmal nichts zu befürchten. Aber zurück zur Nachricht. Lassen sich daraus irgendwelche Schlüsse ziehen?«
»Vergesst doch die blöde Nachricht! Wir müssen hinter ihnen her!«, schrie Sherlock.
»Der Junge hat recht«, brummte Crowe. »Wir haben jetzt keine Zeit zum Nachdenken. Wir müssen handeln.« Er schob Virginia sanft von sich. »Du bleibst hier. Ich werde sie verfolgen.«
»Und ich komme mit«, verkündete Sherlock entschlossen. Als Crowe den Mund aufmachte, um zu protestieren, fügte er hinzu: »Matty ist mein Freund, und ich habe ihm die Sache eingebrockt. Und außerdem können wir zu zweit ein viel größeres Gebiet absuchen.«
Crowe blickte zu Mycroft hinüber, der durch ein unmerkliches Nicken zu verstehen gegeben haben musste, dass er einverstanden war. Denn gleich darauf fuhr der Amerikaner fort: »Okay, junger Mann. Dann mal auf die Pferde. Wir reiten gleich los.«
Crowe steuerte auf die Hintertür zu, und Sherlock folgte ihm.
Draußen standen zwei Pferde, wovon eines bereits gesattelt war. Rasch machte sich Crowe daran, das zweite für Sherlock zu satteln. Als Sherlock das Pferd bestiegen hatte, war der ungeduldige Crowe schon um die Ecke des Hauses vorausgeprescht.
Sherlock drückte dem Pferd die Fersen in die Flanken und folgte seinem Lehrer in raschem Galopp.
Hinter einem zarten Wolkenschleier näherte sich die glühend rote Sonne bereits dem Horizont. Crowe eilte auf seinem Pferd dahin, und Sherlock gab sich große Mühe, ihn einzuholen. Das Trommeln der auf die Straße donnernden Hufe fuhr ihm bis in den Rücken hinauf und erzeugte eine Vibration im Körper, durch die ihm das Atmen schwerfiel.
Er fragte sich, woher Crowe wohl wusste, in welche Richtung sie mussten. Vermutlich hatte er rasch ein paar Überlegungen darüber angestellt, auf welcher Straße die Männer Farnham am wahrscheinlichsten verlassen hätten, wenn sie auf dem Weg zur Küste waren. Wollten sie sich nach Amerika einschiffen, würden sie das am ehesten in Southampton machen. Andererseits konnte Crowe sich durchaus geirrt haben. Denn vielleicht hatten die Männer ja auch vor, in Liverpool ein Schiff zu besteigen und mit dem Zug dorthin zu fahren. Was bedeutete, dass sie Farnham in einer völlig anderen Richtung verlassen hätten. Zum ersten Mal wurde Sherlock so richtig bewusst, dass man mit logischen Überlegungen manchmal nur bedingt weiterkam und dass sie selten nur eine
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