Ysobel – Das Herz aus Diamant
langen Locken besaßen einen besonderen Stellenwert für sie.
»Lass mich!«
»Was ist los?«
Jos runzelte verblüfft die Stirn. Insgeheim hatte er es nur für eine Frage von ein paar geschickten Liebkosungen gehalten, bis sie endgültig in seine Arme sank. Schließlich konnte er die Verwirrung in ihrem Blick, den hastigen Atem und das Beben ihrer Hände einschätzen. Nun jedoch, als Ysobel sich von ihm löste und aufsprang, hatte sie nichts mehr von einer besiegten Beute an sich.
»Ich mag es nicht, wenn man meine Haare anfasst«, murmelte Ysobel und schalt sich im Geheimen für die törichten Worte. Er hatte wahrhaftig schon ein bisschen mehr getan, als nur ihre Haare berührt.
»Du entschuldigst, dass ich das bisher noch nicht bemerkt habe«, entgegnete er mit deutlichem Spott und verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle er damit seine Harmlosigkeit beweisen.
»Es ist ... oh!« Ysobel wandte die Augen von ihm ab und präsentierte ihm ein Profil von bestürzender Reinheit. Ihre schlanken Hände hoben sich in einer hilflosen Geste. »Es macht soviel Mühe, sie zu flechten. Sie sind so widerspenstig, sobald man sie öffnet ...«
»Wie ihre Besitzerin ...«
Sie schwieg. Sie konnte ihm nicht erklären, wie viel Trotz und Sehnsucht, wie viel Aufbegehren und Verzweiflung sich mit diesem überlangen, prächtigen Zopf verband. Er war das Symbol ihres Widerstands gegen Dame Thildas Eigennutz und Gratiens Herzlosigkeit. Ihre Haare zu opfern hätte bedeutet zu kapitulieren, den Schleier zu nehmen und für immer aus der Welt zu verschwinden. Ein Schritt, zu dem sie sich auch in der tiefsten Verzweiflung nicht hatte überwinden können.
»Und wie ihre Besitzerin sind sie wunderschön!«, hörte sie ihn sagen.
Dann überwand Jos blitzschnell den Abstand zwischen ihnen. Er wand die geschmeidige, rötliche Goldschlange um sein Handgelenk und zog Ysobel damit näher. Er sah, wie die Ader an ihrem Hals pulsierte. Die weichen Lippen, die sich sehnsuchtsvoll öffneten. »Ich möchte meinen, wenn du sie offen trägst, gibt es keine Frau in der ganzen Bretagne, die mit einem solchen Schmuck wetteifern kann!«
Die Faszination ging ebenso sehr von seinen Worten wie von seiner Gegenwart aus. Sie legte sich wie Balsam auf Ysobels zitternde Nerven. Von dem Griff um ihren Zopf gezogen, reglos vor ihm zu verharren, spürte sie die Hitze seines Körpers, aber dennoch schien er sich völlig in der Gewalt zu haben. Er war anders als alle Männer, die sie jemals gekannt hatte. Anders als ihr Vater, anders als Gratien und anders als .... O nein, sie durfte nicht daran denken! Nicht ausgerechnet jetzt! Wenn sie wirklich dem drängenden Ruf nachgeben wollte, musste sie alle ihre Erinnerungen vergessen.
Die eigenartige Mischung aus Scheu und Herausforderung hatte verheerende Wirkung auf den jungen Fischer. So geschickt er gemeinhin im Umgang mit Frauen war, bei dieser einen versagte seine Erfahrung. Sie reagierte auf Bewunderung, auf Zärtlichkeit, o ja! Aber dennoch besaß sie genügend eigenen Willen, um ihm nicht wie eine Fliege auf den Leim zu gehen. Oder waren es schlicht anerzogener Gehorsam und falsch verstandene Treue, die sie so widerspenstig machten?
»Kann es sein, dass du glaubst, deinem Seigneur Loyalität schuldig zu sein, weil er einmal nett zu dir war?« murmelte er dicht an ihrem rosigen Ohr. »Wenn du Rat von mir annehmen möchtest, dann halte besser Abstand zu ihm. Er ist deiner nicht wert. Er ist ein Taugenichts, trotz seines ehrenwerten Namens.«
Ysobel erzitterte unter seiner Nähe. Doch seine Anschuldigungen gegen Gratien waren so absurd, dass ihr ein Laut des Protestes entfloh. Wenn ihr Bruder einmal nüchtern genug war, um ein weibliches Wesen zu begehren, dann war es aus höchst unverständlichen Gründen seine reizlose Gemahlin. Die unterwürfige Zuneigung, die er ihr entgegenbrachte, verbot schon den bloßen Gedanken an Betrug, geschweige denn, dass er sich in einem solchen Fall an einer Magd vergriffen hätte. Trotz aller Schwäche besaß Gratien einen hartnäckigen und angeborenen Stolz auf sein edles Blut und seinen Namen.
»Er ist der Herr ...«, widersprach sie aufsässig. Der Baron mochte nicht der Bruder sein, den sich eine Schwester erträumte. Aber er war wenigstens kein Lump, der seine Gemahlin betrog.
Jos vergaß in seinem jäh aufflammenden Zorn alle Vorsicht. Dass sie ausgerechnet Gratien de Locronan verteidigte, konnte er nicht verstehen. »Zum Henker, dieser Mann und seine saubere
Weitere Kostenlose Bücher