Ysobel – Das Herz aus Diamant
indes nicht besonders eilig in Gang, denn Dame Thilda würde so oder so Gift und Galle spucken. Immerhin bekam sie auf diese Weise wenigstens eine Gelegenheit, den Gemächern der Hausherrin einen kritischeren Blick zu gönnen. Da Thilda die absolute Herrschaft über Locronan besaß, würden sich vermutlich auch alle Urkunden, das Gold und sämtliche Briefschaften bei ihr befinden. Wenn es einen Beweis für ihre Verbrechen gab, dann musste er sich unter diesen Dingen befinden.
Als sie über den Hof ging, warf sie einen flüchtigen Blick zum Abendhimmel und registrierte, dass die jagenden Wolken Sturm ansagten. Die Fischer von Locronan würden in dieser Nacht nicht zum Fang hinausfahren. Auch Jos nicht. Sie unterdrückte einen Seufzer. Wie konnte sie ihm nur entkommen? Egal, was sie seit diesem Nachmittag dachte oder tat, ihr dummes Hirn fand stets eine Verbindung zu diesem Kerl. Er hatte sich wie eine hartnäckige Klette in ihrem Leben verhakt, und sie entdeckte, dass es keine Möglichkeit gab, ihm zu entkommen.
In der großen Halle herrschte trotz der prächtigen Beleuchtung und des reichgedeckten Tisches keine sonderlich ausgelassene Stimmung. Die Ehrendamen der Hausherrin teilten ihre Essbretter mit den wenigen Männern, die in Locronan Waffen trugen, und das Gesinde füllte die Bänke unterhalb des großen Herrschaftstisches. Dame Thilda thronte an der Stirnseite der Tafel und präsentierte sich in einem schillernden Gewand mit aufgestickten goldenen Rosen, über dem ihr steifer Kopfputz aus Goldspitze wie ein voll aufgetakeltes Segelschiff schwebte.
Sie entdeckte Ysobel, und ihre ohnehin verdrossene Miene wurde noch eine Spur unfreundlicher. Trotzdem ließ ihre Handbewegung keinen Zweifel zu. »Ich habe mich entschlossen, christliche Nächstenliebe zu üben, auch wenn es keinen Grund gibt, warum du sie verdienst, Mädchen. Setz dich. Es soll nicht heißen, dass du in diesem Hause keinen Platz bei Tisch findest.«
Ysobels Augen streiften den leeren, gepolsterten Stuhl mit der steifen Rückenlehne an Dame Thildas Seite. Weshalb diese mildtätige Geste, wenn Gratien nicht einmal da war, um ihren guten Willen zu würdigen? Da seine Gemahlin nie etwas ohne Grund tat, nahm sie mit äußerstem Vorbehalt an der Ecke des Gesindetisches Platz. Was hatte diese plötzliche Nächstenliebe zu bedeuten?
»Esst, Mädchen«, murmelte ein graubärtiger Haudegen, den der Burgherr in Ermangelung anderer erfahrener Männer vor vielen Jahren zum Anführer seiner Burgwache bestimmt hatte. Weder sein Aussehen noch seine Manieren verlockten ein weibliches Wesen dazu, das Essen mit ihm zu teilen, aber er verbarg ein gutmütiges Herz unter der rauen Schale, und so schob er Ysobel mitleidig die besten Stücke seiner dampfenden Bratenscheibe zu. »Ihr seht aus, als könntet Ihr einen ordentlichen Bissen vertragen!«
Ysobel nickte stumm und war sich der Tatsache bewusst, dass die Gemahlin ihres Bruders sie im Auge behielt wie eine Schlange ihre Beute. Sie glaubte nicht einen Wimpernschlag lang, dass sich diese Frau nach der Auseinandersetzung von neulich besonnen hatte und gewillt war, ihr den Platz einzuräumen, der ihr zustand. Immerhin war sie ihrerseits klug genug, die Gelegenheit zu einer ausgiebigen Mahlzeit zu nutzen, egal was danach passieren mochte.
»Nehmt Euch vor der Herrin in acht«, hörte sie in diesem Moment den Mann an ihrer Seite murmeln. Er hielt den Zinnbecher mit dem Wein in seiner Hand, sah auf die andere Seite der Halle. Man musste schon sehr nahe bei ihm sitzen, um ihn zu verstehen oder die Bewegung der Lippen unter dem Bart zu bemerken.
»Sie hasst mich, ich weiß es. Aber habt Dank für Eure Warnung«, erwiderte sie ebenso unauffällig.
»In zwei Tagen ist Neumond«, antwortete er darauf, und sie musste die Ohren spitzen, um über dem allgemeinen Gemurmel der vielen Stimmen diese eine zu hören. »Der erste Neumond, seit die Winterstürme nachgelassen haben. Fremde Schiffe laufen wieder unsere Küsten an, und es ist nicht ratsam, in der Dunkelheit den falschen Männern zu begegnen. Schon gar nicht für ein Mädchen, das man nicht gerne in diesen Mauern sieht und das viel zu schön ist, um der Herrin zu gefallen ...«
Ysobel erstarrte, dann zwang sie sich langsam und bedächtig zu kauen. Noch vor einem Tag hätte sie diese Worte für das Gefasel eines alten Mannes gehalten. Jetzt tat sie es nicht mehr. Jetzt schrillten alle Sinne »Gefahr!«, und sie erinnerte sich nur zu deutlich an Jos de Compers Warnungen
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