Ysobel – Das Herz aus Diamant
und Vermutungen. Waren dies die Schiffe, welche die menschliche Ware an Bord nahmen? War Dame Thilda kaltblütig genug, sogar Mitglieder der eigenen Familie in die Sklaverei zu verkaufen? O ja, Ysobel zweifelte nicht daran.
»Was wisst Ihr?«, hauchte sie mit starren Lippen und zerbröckelte ein Stück Brot zwischen den nervösen Fingern. »Erzählt mir, was Ihr wisst?«
»Nichts!« Der alte Burghauptmann stürzte seinen Wein hinunter und erhob sich abrupt. »Unsereins ist zu alt und zu taub, um noch etwas zu wissen. Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Kindchen!«
Ysobel sah ihm nach. Der Hunger war ihr schlagartig vergangen. Sie hob den Kopf und schaute in Dame Volbertes verkniffenes Gesicht. Es kostete sie ihre ganze Beherrschung, die Mahlzeit fortzusetzen, als wäre nichts geschehen. Sie kaute bedächtig, aber sie schmeckte nicht, ob es Brot oder Fleisch, Fisch oder Wildbret war, was sie zu sich nahm. Es klumpte wie trockenes Stroh im Mund und bildete im Magen einen harten, schmerzenden Ball.
Wie viele Menschen in dieser Burg wussten eigentlich noch Bescheid über Thildas Machenschaften, ohne dass sie einen Finger rührten? Volberte? Mit Sicherheit! Sie war diejenige, die alle Schmutzarbeit für die Dame erledigte. Zudem hatte sie ein sadistisches Vergnügen daran, Jüngere und Schönere zu plagen. Gratien? Das hing davon ab, wie lange er sich schon um den Verstand trank – und weshalb? Weil er Thilda keinen Einhalt gebieten konnte?
Ysobel griff hastig nach ihrem Becher. Das Gesinde trank sauren Apfelwein. Burgunder und Malvasier, Muskateller und die leichten Weine von der Loire blieben dem Herrschaftstisch vorbehalten. Die Säure des Getränks zog Ysobels Zunge zusammen, und sie dachte sehnsüchtig an das klare, eiskalte Quellwasser, das es in Sainte Anne zu jeder Mahlzeit gegeben hatte. Wie seltsam, dass es plötzlich so viele Dinge in Sainte Anne d’ Auray gab, an die sie sich mit solchem Heimweh erinnerte. Im Kloster hatte sie nur von dieser Burg geträumt.
Lag es vielleicht daran, dass man sich immer nach dem sehnte, was man nicht bekommen konnte? So wie zum Beispiel nach Jos de Comper? Heilige Anna, da war er schon wieder in ihren Gedanken!
8. Kapitel
Unterschätzt das Mädchen nicht. Es hat mehr im Kopf als andere. Vielleicht hat es Verdacht geschöpft?«
»Schwatz keinen Unsinn! Was gibt es da zu verdächtigen? Ich habe Ysobel lediglich bewiesen, dass ich mich der Autorität meines Gemahls beuge.«
»Sie wird sich fragen, weshalb.«
»Und sie wird sich die Antwort unschwer selbst geben können. Dass ich keinen Ärger mit Gratien haben möchte.«
Ysobel drückte sich gegen die Mauer und verschmolz mit dem Schatten des dunklen Raumes. Es war eine Sache, die Burg vom ersten Kaminabzug bis zur letzten versteckten Kammer zu kennen, und eine ganz andere, dieses Wissen dazu zu nutzen, um Thilda zu belauschen. Sie hatte Angst, das Hemd klebte ihr schweißfeucht zwischen den Schulterblättern, und ihr Herz pochte so laut, dass sie Mühe hatte, der Unterhaltung zu folgen, welche die Baronin mit der Haushofmeisterin führte. Die Dame glaubte sich in der eigenen Kemenate natürlich vor fremden Ohren sicher.
Ysobel hatte ihre eigenen Bedenken gegen diese Art von Hinterlist gewaltsam zum Schweigen bringen müssen. Wenn sie Gratien und sich selbst einigermaßen heil aus diesem schrecklichen Wirrwarr lotsen wollte, musste sie wissen, was seine grässliche Gemahlin plante. Wieweit sie diese Informationen dann an Jos de Comper weitergeben wollte, hatte sie noch nicht entschieden.
Welch ein Segen, dass sie im vergangenen Winter entdeckt hatte, dass der wunderbare neue Marmorkamin in Dame Thildas luxuriöser Kemenate einen entscheidenden Nachteil hatte. Er teilte sich den Zug mit der Feuerstelle in der modernen Badekammer, und wenn man dort seine Arbeit tat, verstand man jedes Wort, das nebenan gesprochen wurde. Hinzu kam, dass die Kammer einen eigenen Eingang hatte, denn die Herrin wünschte natürlich nicht, dass die Bademägde durch ihr Schlafzimmer marschierten, wenn sie das heiße Wasser aus der Küche herbeischleppten.
»Hast du dich darum gekümmert, dass der Wein zubereitet ist?«, hörte Ysobel nun ihre scharfe Stimme. »Ich möchte keinesfalls, dass mir Gratien dazwischenplatzt, wenn ich meine Abmachungen mit dem maurischen Kapitän treffe. Es darf keine Störung geben!«
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Kindchen, das wisst Ihr doch! Die Menge des Schlafmittels würde einen Ochsen
Weitere Kostenlose Bücher