Ysobel – Das Herz aus Diamant
Heimat eine Fremde zu sein. Normalerweise hätte diese Frau vor ihr einen Knicks gemacht und sie mit allem Respekt behandelt, welcher der Schwester des Burgherrn gebührt. Dame Thilda hatte mit ihrem Pesthauch wahrhaftig mehr als ein Leben zerstört und auf den Kopf gestellt.
»Das tut nichts zur Sache«, erwiderte sie. »Wenn Ihr Jos seht, gebt ihm dies und sagt ihm, dass ich wichtige Neuigkeiten für ihn habe. Er weiß dann, wo er mich findet!«
Sie drückte der Witwe Kennec die kleine Holzmöwe in die Hand. Es tat ihr weh, sich davon zu trennen, aber es war die einzige Möglichkeit, Jos wissen zu lassen, von wem die Botschaft kam, ohne dass sie ihren Namen verraten musste. Sie konnte nur hoffen, dass er die Dringlichkeit dieser Nachricht erkannte und so schnell wie möglich in die Höhle eilte. Alles hing davon ab, dass sie ihn rechtzeitig in die Burg schmuggeln konnte.
Ohne auf die Antwort der Frau zu warten, warf sie sich herum und rannte durch die schmale Gasse in Richtung Strand zurück. Einen Tag vor Neumond hüllte sich das kleine Fischerdorf in tiefe Finsternis, und sie war mehr auf ihren Instinkt als auf ihre Augen angewiesen, damit sie nicht gegen irgendwelche Hindernisse prallte. Unter ihren bloßen Füßen spürte sie den feuchten Schmutz der Gasse, und die Rocksäume schlugen schwer und nass um ihre Knöchel. Sie hatte den Weg am Strand entlang nach Ploaré gewählt und dabei mehr als einmal durch die heranflutenden Wellen waten müssen.
Der Geruch des Meeres mischte sich mit den zahllosen anderen Ausdünstungen der kleinen Ansiedlung. Es roch betäubend nach getrocknetem Fisch, nach Unrat, Torffeuern und Ziegendung. Irgendwo kläffte ein Hund, und in der nächsten Gasse greinte ein Säugling. Ysobel kam der eigene Atem viel zu laut vor, und sie mäßigte ihr Tempo, damit sie kein Seitenstechen bekam. Sobald sie indes langsamer ging, gewann die feuchte Kälte des Meeres und des Windes wieder die Oberhand. Der dünne alte Umhang war von der gleichen schlechten Qualität wie ihre übrigen Kleider. Fadenscheinig und viel zu verschlissen für eine Märznacht, die noch zwischen Winter und Frühling schwankte.
Wie töricht sie doch war, sich so naiv darauf zu verlassen, dass Jos de Comper ihr helfen würde. Was hatte sie erwartet? Dass er sich bei ihrem Anblick aus den zärtlichen Armen der Fischersfrau losreißen und wie ein Held aus alten Sagen zur Rettung ihrer Familienehre schreiten würde? Weshalb sollte er das tun? Weil sie dieses berauschende Erkennen ihrer Körper miteinander geteilt hatten? Weil ihr eine innere Stimme sagte, dass er jene Hälfte ihres Lebens war, nach der sie sich immer gesehnt hatte?
»Das Leben ist nicht so, wie du es dir in Sainte Anne erträumt hast«, rief sie sich selbst wieder zur Ordnung. »Je eher du dich damit abfindest, um so besser ist es für deinen Seelenfrieden!«
Für einen Moment war sie durch ihre Gedanken abgelenkt, blind und taub für ihre Umgebung. Als sie das Männergelächter hörte, war es bereits zu spät. Sie lief direkt auf die Gruppe zu, die sich vor der Dorftaverne um eine kichernde Dirne scharte. Das Mädchen konnte sich offensichtlich nicht entscheiden, wem es seine Gunst schenken sollte, und ehe Ysobel in den nächsten Hauseingang schlüpfen konnte, schwenkte eine Fackel in ihre Richtung, und das Unglück war geschehen.
»Da ist ja noch ein Schätzchen! Das ändert die Sache natürlich!«
Das flackernde Licht tanzte über ihr entsetztes Gesicht mit den weit aufgerissenen goldenen Augen. Lange genug, damit es die klare Schönheit ihrer Züge, den weichen Mund und den schlanken Hals enthüllte. Das Gelächter wurde zum Grölen. Hände packten zu, und Ysobel fühlte sich gewaltsam in den Kreis der Kerle gezogen. Sie spürte die gierigen Finger über ihren Körper tasten, und die Kapuze des Umhanges rutschte von ihren Haaren. Ihr Aufschrei verlor sich unter den zotigen Bemerkungen und dem empörten Kreischen der Dirne, die nichts von dieser Konkurrenz wissen wollte.
»He, was wollt ihr von der da!«, rief sie, um ihr Geschäft fürchtend. »Die gehört nicht zu uns ...«
»Halt’s Maul!«, hörte Ysobel einen Mann antworten, und sie glaubte, die Stimme zu erkennen. Es war einer der fremden Bogenschützen, die in der Burg Dienst taten. Weshalb trieb er sich im Hafen herum? Früher hatte die Besatzung der Festung die Burg nie bei Nacht verlassen dürfen. Aber früher hatte es in diesem Ort auch keine Dirnen gegeben, die mit halboffenem Mieder
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