Ysobel – Das Herz aus Diamant
dritten Bruder und seine haarsträubend unstandesgemäße Geliebte.
Er prüfte, ob er eine der Hofdamen der Herzogin gut genug kannte, um sie zu bitten, Ysobel eine Anstellung im Gesinde des Hofes zu verschaffen. Aber selbst wenn er jemanden fände, würde es nicht leicht sein, einer Edeldame ein solches Anliegen zu unterbreiten. Wie sollte er erklären, was ihn an diese junge Frau band? An eine Magd, die so tief unter einem Ritter stand, selbst unter einem landlosen Ritter, dass es undenkbar war, sie in allen Ehren an sich zu binden.
Dennoch, er musste einen Weg finden, denn er wusste genau, dass er sich nie wieder von ihr trennen würde. Er wäre ein Narr, wenn er es täte. Noch keine Frau hatte ihm jemals eine solche Leidenschaft geschenkt, so grenzenlos und unverdorben. Aber nicht dies allein band ihn an sie, sie vermittelte ihm Wärme und das unglaubliche Gefühl, in ihren Armen zu Hause zu sein. Allein die Vorstellung, sie zu verlieren, schmerzte ihn. Ebenso gut könnte er versuchen, sich einen Arm auszureißen.
Unvermittelt richtete Ysobel sich auf, stieß einen leisen Schrei aus und schlug sich dann keuchend die Hand vor den Mund. Sie atmete heftig, angstvoll, und als Jos sie wieder in seine Arme ziehen wollte, wehrte sie sich wie eine Furie dagegen. Sie schien noch in einem schrecklichen Traum gefangen.
»Schscht! Keine Angst, mein Herz! Du bist bei mir und in Sicherheit! Du hast geträumt ...«
Nach und nach drang die sanfte Stimme durch Ysobels Panik und die junge Frau rang zitternd um Luft. Ihre Stimme wollte ihr nicht gleich gehorchen. »Gratien!«, wisperte sie heiser. »Er hat ihn getötet!«
»Du hast geträumt!« Jos schüttelte den Kopf. »Nichts ist geschehen. Dein Seigneur schnarcht vermutlich in seinem Alkoven. Kümmert dich der Kerl denn immer noch?«
»Gratien?«
Ysobel war verwirrt. Sie wusste nicht mehr, was sie geträumt hatte. Sie wusste nur, dass sie Gratiens Schrei gehört hatte. Dass sie mit dem grauenvollen Wissen erwacht war, dass ihr Bruder in diesem Moment sein Leben ließ – der einzige Mensch, der ihr von ihrer Familie geblieben war, ohne den sie ganz allein auf dieser Welt gewesen wäre.
»Natürlich bin ich ihm zugetan«, erwiderte sie aus diesen Gedanken heraus. »Er hat mir nie absichtlich weh getan. Er hat lediglich nicht das Format, seiner Gemahlin die Stirn zu bieten. Es wäre besser gewesen, das Schicksal hätte die Rollen vertauscht und ihn zur Frau gemacht!«
»Der Herr von Locronan sieht das vermutlich anders«, meinte Jos trocken. Er gönnte Gratien de Locronan nicht einmal ein Lächeln Ysobels, und es ärgerte ihn, dass sie immer noch eine gute Meinung von dem Burgherrn hatte. »Vergiss diesen Jammerlappen. Wir haben genug mit unseren eigenen Schwierigkeiten zu tun. Es beginnt zu tagen. Wir werden diese Zuflucht verlassen und uns um die Truhe kümmern müssen, von der du gesprochen hast.«
Ysobel strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn und lauschte abwesend. Ihrem Zeitgefühl nach ging es auf die Prim zu. Um sechs Uhr begann der Haushalt allmählich zu erwachen. Die Knechte kümmerten sich um das Vieh, die Mägde um die Feuerstellen, die Morgenmahlzeiten und die Hühner. Dabei entstand jene morgendliche Geräuschkulisse, die den Beginn eines jeden neuen Tages begleitete.
Doch heute vermisste sie den vertrauten Lärm. Weshalb? Weil das Gemach des Burgherrn von der Halle so weit entfernt war? Weil sie schlecht geträumt hatte?
»Was ist?« Jos verstand nicht, warum sie so abwesend wirkte, es schien, als würde sie auf irgendetwas lauschen.
»Ich kann es nicht sagen«, erwiderte Ysobel angespannt und massierte sich die schmerzenden Schläfen. »Das Haus hat sich verwandelt, spürt Ihr es nicht auch? Es muss etwas geschehen sein!«
»Also doch eine Hexe!« Jos versuchte einen Scherz zu machen, aber er konnte nicht verhindern, dass er eine Gänsehaut bekam. Denn seltsamerweise hatte er plötzlich den gleichen Eindruck wie Ysobel. Auf einmal glaubte auch er Schreie zu hören, Waffengeklirr, die ganze hässliche Geräuschpalette menschlicher Gewalt.
»Kann es sein, dass die Burg angegriffen wird?«, murmelte er verblüfft. »Wer sollte so etwas tun? Der Krieg ist vorbei. Außerdem hätten wir doch Lärm hören müssen, wenn die Mauern gestürmt worden wären. Die Tore sind verschlossen und bewacht, wie also ...«
»Verräter!« Mit einem Schlag erinnerte sich Ysobel wieder an die Männer, die sie in Ploaré belästigt hatten. Sie dachte an das
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