Ysobel – Das Herz aus Diamant
den feuchten Haarsträhnen um das bleiche Gesicht und dem zerrissenen Hausmantel, der ihre Blöße nur notdürftig bedeckte, glich Mathilda de Locronan mehr denn je einer Furie. In ihren Augen leuchtete das Feuer mörderischer Wut, und hektische rote Flecken brannten auf ihren blassen Wangen.
»Fasst Euch«, befahl nun auch die Haushofmeisterin. Allmählich ließ der Schock nach, und nun richtete sich ihre ganze Hoffnung auf Dame Thilda. War sie es nicht, die noch immer einen Ausweg gefunden hatte, wenn es Schwierigkeiten gab? War sie es nicht gewesen, die die Verbindung zu jenem grässlichen Mann geknüpft hatte, der nun so tat, als gehöre ihm die Burg und das gesamte Lehen? Vielleicht handelte es sich nur um eine ganz besonders rüde Art, die Anteile dieser Partnerschaft neu zu bestimmen?
»Ihr müsst mit dem Herzog sprechen!«, flüsterte sie ihrer Herrin zu. »Es muss doch etwas geben, das Ihr ihm im Austausch für unser Leben und unser Wohlergehen anbieten könnt?«
»Närrin!«, zischte die Edeldame verächtlich. Die Wunde auf ihrer Schulter brannte, aber noch mehr schmerzte der Umstand, dass sie in einer Falle steckte, aus der es keinen Ausweg zu geben schien. »Er hat doch schon alles! Eine Burg, einen Hafen, einen Schlupfwinkel und die Möglichkeit, innerhalb von wenigen Stunden so viel Gold zu verdienen, dass er die halbe Bretagne kaufen kann. Hast du vergessen, dass heute Nacht Neumond ist? Ich bin sicher, dass er den Zeitpunkt seines Überfalls genau geplant hat. Er hat es satt, mit uns zu teilen!«
»Noch ist Morgen!« Die scheinbar ausweglose Situation ließ die ehemalige Kinderfrau offensichtlich nicht verzweifeln. »Wollt Ihr aufgeben, ehe der Tag richtig begonnen hat? Denkt nach!«
Für einen Moment wurde Thilda aus ihrem Selbstmitleid und ihrem Hass gerissen. Wenn schon die Welt um sie herum zusammenbrach, dann war es töricht, zuzusehen, ohne sich zu wehren.
Sie ließ den Blick über das traurige Häufchen Frauen gleiten, das sich um sie herum scharte. Die Männer wurden an einem anderen Ort gefangen gehalten, und sie erkannte die Absicht dahinter, so viel Angst und Unsicherheit wie möglich zu verbreiten. Es machte dem Wolf von St. Cado Vergnügen, sie zu demütigen. Aline und die anderen Ehrendamen glichen einem zerzausten Grüppchen erschrockener Sperlinge, die in den Regen geraten waren. Ihr angeborener Stolz zwang sie trotz allem, sichtbaren Abstand zu den gemeinen Mägden zu halten, die ihr Schicksal teilten und natürlich in der Nässe zitterten, weil man ihnen keinen Platz unter dem schmalen Dach einräumte.
Im ersten Moment wusste Dame Thilda nicht, was sie störte, sie konnte es nicht recht fassen. Etwas fehlte. Jemand. Sie runzelte die Stirn und musterte erneut die Gefangenen. Eine kleine Spülmagd, ein Kind fast noch, mit erbärmlich dünnen Armen und Beinen, bemühte sich, eine verletzte Stallmagd zu stützen, die aussah, als würde sie ohnehin gleich zusammenbrechen. Die anderen waren unverletzt und ... Sie stutzte, und plötzlich wusste sie es.
»Du da!«, fuhr sie das magere Geschöpf an, das sich hastig umschaute, um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich gemeint war. »Hast du die rothaarige Magd gesehen, Ysobel?«
Jeanne schüttelte nur stumm den Kopf.
»Kannst du nicht sprechen?«, fuhr Dame Thilda sie an.
»Hast du gesehen, ob sie bei diesem Überfall gefangen genommen oder verwundet wurde? Wo steckt das Frauenzimmer schon wieder?«
»Ich weiß es nicht. Ich hab’ sie nicht gesehen«, wisperte Jeanne. »Schon lang nicht mehr. Sie war doch in der Halle bei Euch am Abend ...«
Natürlich hatten die Mägde über die Tatsache getratscht, dass Ysobel jetzt bei der Herrschaft aß. Jeanne hatte sogar darauf gehofft, dass sie vielleicht einen der Leckerbissen, die es dort im Übermaß gab, für sie in die Rocktasche steckte. Sie hatte besonders lange am Spülstein getrödelt, für den Fall, dass sie zurückkam, aber sie hatte umsonst gewartet. Ysobel blieb fort.
Dame Thilda zog die Reste ihres einstmals so prächtigen Mantels enger um die knochigen Schultern. Sie versuchte, sich an den vergangenen Abend zu erinnern. Ysobel hatte mit dem alten Burghauptmann das Essbrett geteilt ... Wann war sie aus der Halle verschwunden? Aber wie auch immer, sie hatte die Burg nicht verlassen können. Das Tor war zu diesem Zeitpunkt längst verschlossen gewesen. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder befand sie sich unter den Toten, oder sie versteckte sich und lauerte auf eine
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