Ysobel – Das Herz aus Diamant
seiner Brust zusammensank.
»Leise!«, flüsterte er und drängte sie zurück. »Ich habe nicht die Absicht, diesen Galgenvögeln in die Hände zu fallen. Der grauhaarige Schurke dort hinten ist Paskal Cocherel, die Geißel der Bretagne. Ihm mit nichts als einem Dolch und einem Mädchen gegenüberzutreten ist purer Selbstmord! Lass uns verschwinden, ehe der Schurke seine Mörderbande anweist, alle Kammern zu durchsuchen!«
Ysobel rang nach Atem. In ihrem Kopf drehte sich alles. Mit einem Male erschienen wieder die Bilder ihrer schlimmsten Albträume vor ihren Augen. Die Männer in der Halle sahen allesamt aus wie jener, der sie für immer verändert und zerstört hatte. In blinder Panik kämpfte sie gegen den Griff, der sie hielt.
Jos de Comper wusste, dass er Ysobel vor sich selbst schützen musste. Einmal mehr bekämpfte er jene Eifersucht, die die Gefühle der jungen Frau für den Herrn von Locronan in ihm hervorriefen. Sie hing mit einer geradezu kindlichen Anbetung an diesem Schwachkopf, dem nichts Besseres hatte passieren können als dieser leidlich ehrsame Tod im Kampf gegen die Eroberer seiner Burg. Es ersparte ihm das Tribunal Jean de Montforts und die Gefängnisse von Rennes.
»Dein Seigneur ist tot!«, raunte er und zwang sie zum Umkehren. »Du kannst nichts mehr für ihn tun. Um so mehr aber für mich. Ich habe einige Male an der Seite dieses vermaledeiten Wolfs gekämpft! So gerne ich ihm den Garaus machen möchte, ich werde diese Aufgabe erst dann in Angriff nehmen, wenn mir das Schicksal eine Chance lässt, diesen Kampf auch zu überleben!«
Ysobel verstand nur die ersten drei Worte. Gratien war tot! Sie hatte ihren Bruder verloren! Sie zweifelte keinen Herzschlag länger daran, dass es tatsächlich sein Todesschrei gewesen war, der sie so grausam aus dem Schlummer gerissen hatte. Sie hatte auch damals vom Tod der Eltern gewusst, längst ehe sie die schreckliche Nachricht aus Quimper erhalten hatte. Aus ihrer Kehle löste sich ein leises Stöhnen.
Jos hätte sie am liebsten in den Arm genommen und getröstet, aber die grölenden Stimmen auf der alten Dienstbotenstiege verkündeten, dass sie bereits in der Falle saßen. »Verflucht! Sie kommen! Wir müssen uns verstecken! Bitte, Mignonne, komm zu dir! In welche Richtung führt dieser verdammte Gang?«
Seine flehenden Worte, und dass er sie heftig schüttelte, brachte Ysobel mit einem Schlag wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie zog Jos de Comper vom Lärm fort, um die nächste Ecke zu einem Korridor, der mit prächtigen schwarzweißen Marmorquadraten prunkte.
»Hier entlang!«, sagte sie und huschte an aufwändig geschnitzten Türen und schmiedeeisernen Fackelhaltern vorbei, die schwarzen Blumen glichen.
Jos wollte sie gerade darauf hinweisen, dass Cocherels Männer diese luxuriösen Gemächer vermutlich als erstes auf den Kopf stellen würden, als sie eine neuerliche Treppe erreichten, die in eleganter Kurve nach oben führte. Ein Wandteppich in düsteren Farben, auf dem ein Jäger eben einen Eber durchbohrte, schmückte den Aufgang. Ysobel lupfte eine Ecke dieses Wandschmucks und schlüpfte dahinter. Jos zögerte, ihr zu folgen, aber der sich nähernde Lärm nahm ihm die Entscheidung ab.
Er fand sich in einer dunklen, kühlen Nische wieder, die wie ein Dreieck spitz zulief und offensichtlich entstanden war, als das neue Rund der Treppe an die gerade, alte Wand gemauert worden war. In der völligen Dunkelheit fühlte er die roh behauenen alten Steine, welche noch die Kälte des vergangenen Winters ausstrahlten. Instinktiv zog er Ysobel in seine Arme, strich ihr beruhigend über den Rücken.
Reglos standen sie da, während unmittelbar neben ihnen Männer die Treppe hochpolterten. Ihren Bemerkungen war zu entnehmen, dass sich die Söldner Cocherels auf einer höchst unterhaltsamen Jagd nach allem befanden, was einen Rock trug und sich bisher der Gefangennahme entzogen hatte.
Ysobel zuckte zusammen, als sie einen schrillen Frauenschrei vernahm. Sie vergrub schutzsuchend ihr Gesicht an der breiten Brust ihres Gefährten. Sie konnte sein Herz schlagen hören und versuchte, sich ganz auf diesen Rhythmus zu konzentrieren und die Welt da draußen auszuschließen.
Solange sie hier standen, konnte ihnen nichts geschehen. Sie fühlte die geschmeidige Wärme seines so vertrauten Körpers, und Erleichterung überflutete sie bis in die Zehenspitzen. Wenigstens lebte er. Wenigstens war nicht er es, der dort unten in der Halle lag und blicklos nach oben
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