Ysobel – Das Herz aus Diamant
Fluchtmöglichkeit.
Trotz der demütigenden Umstände und der Gefahr, in der sie steckte, arbeitete Dame Thildas Verstand plötzlich wieder präzise und logisch. Ysobel wurde jäh zur wichtigen Dame im Schachspiel mit Paskal Cocherel. Immerhin war sie eine echte Edeldame von verdammenswert gutem Aussehen. Wenn auch schon ein wenig alt, so doch genau das Goldstück, mit dem man einen Handel beginnen konnte. Volberte hatte recht, es war an der Zeit, dass sie sich um ihr Schicksal kümmerte!
»Hey, du da!«, fuhr sie einen der vierschrötigen Männer an, die sie lustlos bewachten. »Ich muss mit dem Herzog von St. Cado sprechen. Auf der Stelle! Es geht um Dinge von großer Wichtigkeit! Mach dich fort und sag ihm Bescheid! Worauf wartest du?«
Der herrische Ton sorgte immerhin dafür, dass der Söldner die jämmerliche Dame näher in Augenschein nahm. Er gönnte ihr ein Grinsen, das durch die wenigen schwarzen Zahnstummel, die er noch besaß, jedoch eher abstoßend wirkte.
»Du hast mir keine Befehle zu erteilen, Weib!«, fuhr er sie an.
Dame Thilda versuchte ihre Wut zu bezähmen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich mit einem solchen Einfaltspinsel zu streiten. Sie musste es auf eine andere Weise versuchen.
»Bitte!« Sie zwang sich gewaltsam zu einer gewissen Freundlichkeit, aber es klang dennoch spitz und schnippisch. »Mir ist es schließlich egal, ob du Schwierigkeiten bekommst. Dein Herr wird dich auspeitschen, wenn er erfährt, dass du meine Botschaft nicht überbracht hast.«
»Hä?«
Ihre Wut flammte von neuem auf. Dieser idiotische Tölpel! Ihre guten Vorsätze, geduldig zu bleiben, verflogen im Ansatz.
»Die Herrin hat eine dringende Botschaft für den Herzog. Wenn du ihm nicht auf der Stelle Bescheid gibst, wird er seine Wut an dir auslassen!«
Volberte fand glücklicherweise die richtigen Worte. Paskal Cocherels Jähzorn war unter seinen Männern gefürchtet. Seit einiger Zeit bekam er schon bei Kleinigkeiten erstaunliche Tobsuchtsanfälle. Es war noch keine zwei Tage her, dass er eine der Dirnen erdolcht hatte, die dem Tross folgten. Angeblich, weil es der Ärmsten nicht gelungen war, seine schwindende Männlichkeit zu beleben. Es war ein offenes Geheimnis, dass ihn eine dieser Teufelsnonnen aus Sainte Anne mit einem Fluch bedacht hatte.
Der Söldner betrachtete die Frau misstrauisch und stufte sie dann unter die Sorte ein, die ohnehin nur Ärger machte. Wenn sich der Herzog also schon aufregte, dann war es vermutlich empfehlenswert, ihm auch gleich den Sündenbock dafür mitzuliefern. Er stapfte in den Regen hinaus, und ehe Dame Thilda begriff, dass er nicht zum Haupthaus, sondern auf den Brunnen zumarschierte, hatte er sie bereits am Arm gepackt und stieß sie vor sich her.
»Sag ihm selbst, was du für so wichtig hältst«, knurrte er. »Ich werd’ nicht meinen Kopf für deinesgleichen hinhalten!«
Die Edelfrau kreischte empört auf, und auch ihre zitternden Damen schnatterten das Echo dazu, aber keine machte Anstalten, der entrüsteten Herrin zur Hilfe zu eilen. Die ängstlichen, gefügigen und wohlerzogenen Edeldamen beschränkten sich aufs Jammern, und das Gesinde stimmte mit ein. Im rauschenden Regen, dem Toben des Windes und dem Klappern offener Türen hörte es sich wie das Klagelied von verlorenen Seelen an, die bereits jede Hoffnung für sich und andere aufgegeben hatten.
»Halt’s Maul!«, fuhr der Landsknecht Thilda an, und sie stolperte verzweifelt die breiten Steinstufen hinauf, die in die Burg führten, die nicht länger die ihre war. Ihr war schrecklich übel. Sie wagte sich nicht zu überlegen, ob vor Abscheu oder vor Angst.
2 Siehe »Graciana – Das Rätsel der Perle« von Marie Cordonnier, Band 18193.
3 Siehe »Jorina – Die Jade-Hexe« von Marie Cordonnier, Band 18197.
12. Kapitel
Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Jos de Comper packte Ysobel um die Taille und verhinderte, dass sie geradewegs die Treppe hinunter in ihr Verderben lief. Er hatte viel schneller als die junge Frau begriffen, wie dieser verhängnisvolle Morgen das Schicksal der Menschen auf Locronan verändert hatte.
»Lasst mich!« Ysobel wehrte sich zappelnd gegen den eisenharten Griff. »Dort unten ist Gratien! Ich muss ihm helfen, also lasst mich!«
Jos jedoch hatte längst erkannt, dass dem Burgherrn nicht mehr zu helfen war, Gratien war tot. Er hielt ihr die Hand über den Mund und zog sie erst wieder fort, als sie aufhörte, sich gegen ihn zu wehren und keuchend an
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