Ysobel – Das Herz aus Diamant
berührte lediglich die elegante Anmut ihrer Bewegungen, die sogar die fromme Geste zu einer Augenweide machte. Er hätte ewig so stehen und Ysobel beobachten können, aber er war sich der Gefahr dennoch unangenehm bewusst.
»Und nun?«, erkundigte er sich gedämpft.
»Kommt weiter ...«, wisperte Ysobel und wandte sich einer steilen Stiege am Rand der Galerie zu, die fast senkrecht hinunterführte. Die steinernen Stufen waren unregelmäßig und von zahllosen Schritten ausgetreten, aber sie huschte ohne zu straucheln in das Kirchenschiff hinab. Jos registrierte am Rande, dass sie diese Kletterpartie unzählige Male unternommen haben musste, um sich ihrer Schritte so sicher zu sein.
Vor dem Altar beugte sie kurz das Knie und bekreuzigte sich erneut. Aus der Nähe sah Jos, dass der monolithische Block auf der Vorderseite das Wappen der Familie von Locronan trug. Die groben Linien zeigten, dass es vor undenklichen Zeiten eingehämmert worden war, und er vermutete dass ihr stummes Gebet dem toten Baron galt. Er zwang sich ebenfalls zum Innehalten. Es konnte nicht schaden, den Himmel um Beistand zu bitten. Aber er stieß lediglich ein eigennütziges Gebet aus, dass es ihm gelingen möge, Ysobel gesund aus diesem Unglück zu retten. Nur sie war in diesem Moment für ihn wichtig. Ihr Leben zählte mehr als alles andere für ihn.
Die junge Frau spürte seine Ungeduld, aber sie benötigte dieses kurze Atemholen. Weniger, weil sie Trost im Gebet fand, sondern weil sie das Gefühl hatte, in dieser Umgebung von den Geistern jener umgeben zu sein, die vor ihr für das Haus Locronan gekämpft hatten. Mit ihrer Unterstützung musste es gelingen, das Schlimmste zu verhindern. Es kam ihr nicht in den Sinn, auch Gottes Hilfe zu erflehen. Derzeit hielt sie ihn für einen zu schwierigen Herrn, der wenig tat, um die Unschuldigen zu beschützen.
In der Stille des Gotteshauses nahm Jos um so deutlicher wahr, wie der Wind durch die Fensterschlitze pfiff. Das Wiehern von Pferden, die Stiefeltritte und das Gebrüll von Männern klangen gedämpft herein. Kein Kampfeslärm, eher die alltäglichen Laute eines Heerlagers. Wie es schien, hatte Paskal Cocherel seine Truppen straff organisiert und bereitete sich für alle Fälle darauf vor, Locronan im Notfall zu verteidigen. Das erklärte auch, warum sich das Plündern in Grenzen hielt. Die Marodeure rechneten damit, dass sie noch jede Menge Zeit haben würden, die Schätze dieses Herrschaftssitzes an sich zu bringen.
Auch Ysobel vernahm die Geräusche, die von draußen hereindrangen, und strich sich mit einem Seufzer die Haare aus der Stirn. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Zopf nicht ordentlich geflochten war. Nun umgab sie ein wirres Gespinst kupferfarbener Locken, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. Vermutlich sah sie schrecklich aus!
»Wir müssen weiter«, drängte Jos. »Oder willst du dich hinter diesem Altar verbergen?«
»Ich hoffe nicht, dass wir das tun müssen«, murmelte Ysobel und deutete auf einen Durchgang schräg hinter dem Altar. »Folgt mir zur Sakristei!«
Sie eilte voraus und schritt zielstrebig auf einen mächtigen Schrank aus schwerem Wurzelholz zu, der die ganze Stirnseite des Raumes einnahm. Als sie die Türen öffnete, bemerkte Jos die leeren Fächer, die vermutlich einmal Altartücher, Kerzen, Weihrauch und andere Gerätschaften enthalten hatten. Nun flüchtete lediglich eine dicke schwarze Spinne in die hinterste Ecke eines Faches, als Ysobel mit beiden Händen gegen die Rückwand drückte. Sie brauchte alle Kraft dafür, dann drehte sich schwerfällig quietschend die ganze Wand und gab eine dunkle Höhlung frei.
»Die Burg wurde zur Zeit der Normannenüberfälle erbaut«, antwortete sie auf seine unausgesprochene Frage. »Damals schien es den Herren von Locronan sinnvoll zu sein, alle Notfälle einzukalkulieren.«
Sie schlüpfte durch den Spalt und teilte mit den Händen die Spinnennetze, die davon zeugten, dass seit undenklichen Zeiten kein Mensch diesen Weg genommen hatte. Jos folgte ihr, sobald er die Schranktüren, so gut es ging von innen geschlossen und die Rückwand wieder an Ort und Stelle geschoben hatte. In der tiefen Dunkelheit spürte er Ysobel neben sich und zog sie in seine Umarmung.
»Wenn das alles vorbei ist, werde ich dich in einem Gemach mit Hunderten von Kerzen lieben«, murmelte er in die wirre Pracht ihrer Locken hinein. »Habe ich dir schon gesagt, wie ich diese ständige, höllenschwarze Finsternis verabscheue? Ich kann nicht
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