Ysobel – Das Herz aus Diamant
oben. Ein überdeckter Gang führt aus dem Haupthaus herüber.
Eine Kopfbewegung schickte die Söldner die steile Treppe hinauf, während der Herzog näher an den Altar trat und den Bogengang in die Sakristei entdeckte. Seine Stiefel wirbelten kleine Wolken von Staub und getrocknetem Vogelkot auf.
»Licht!«, brüllte er so unerwartet, dass seine Gefangene zusammenzuckte und stolperte. Aber sie teilte seinen Wunsch. Auch sie verabscheute das diffuse Halbdunkel des Gewölbes, und sie begrüßte den flackernden Schein, den die Pechfackel bis in die hinterste Ecke der Sakristei warf. Die Türe des leeren Messschrankes öffnete sich ächzend, als habe die Bewegung eine Mechanik in Gang gesetzt, die seit Jahren eingerostet war.
In der blakenden Helligkeit der Fackel entdeckte Dame Thilda ein seltsames Glitzern am spröden Holz. Unwillkürlich streckte sie die Hand danach aus und hielt drei lange Fäden aus goldglänzendem Kupfer in der Hand. Haare! Ysobels Haare!
»Ich hatte recht!«, verkündete sie triumphierend und hielt ihre Beute hoch. »Sie war hier!«
Die Faust des Herzogs schwang herum, packte ihr Handgelenk und hielt es so nahe an die Fackel, dass die Hitze ihr fast die Finger versengte. Die leicht gewellten Haare wurden vom Sog des Feuers bewegt, kräuselten sich, und der ätzende Gestank verbrannten Horns stieg in seine Nase. Es schien, als vereine sich die Farbe des Feuers mit jener der Haare, die am Holz hängengeblieben waren.
»Eine rothaarige Hexe!«, murmelte er böse. »Wo steckt das Weibsbild?«
»Ihr habt sie vermutlich vertrieben, als Ihr die Tür mit solchem Getöse aufstemmen ließet«, stichelte Dame Thilda boshaft. Es half ihr zwar nichts, aber es tat ihr gut, dass sie ihrem Gegner einen Fehler nachweisen konnte. »Oder seht Ihr das Mädchen hier irgendwo?«
»Sucht weiter!«, bellte der Herzog und stieß mit der Fackel nach seiner Gefangenen, so dass sie ihre eigenen dünnen Haarsträhnen vor dem Feuer in Sicherheit bringen musste. »Und die hier fesselt ihr und legt sie vor den Altar! So lange, bis wir das Mädchen gefunden haben, werdet Ihr in Sicherheit sein, verehrte Dame! Aber keinen Herzschlag länger!«
Die Baronin erkannte die Drohung. Sie wich entsetzt an die Wand zurück. »Was habt Ihr vor?«
»Ich gebe Euch Gelegenheit, Euer Gewissen an diesem heiligen Ort zu erforschen und den Himmel um Beistand zu bitten«, entgegnete Paskal Cocherel gehässig. Er brauchte sein Opfer nur anzusehen, um zu merken, wie sehr Thilda den Aufenthalt in der Kirche verabscheute. »Zeit zum Gebet! Gehabt Euch wohl!«
Die Männer verließen das Gotteshaus, und Mathilda de Locronan zerrte an den groben Stricken, die ihre Hände auf den Rücken fesselten und die Blutzirkulation in ihren Beinen beeinträchtigte. Sie lag genau neben der Gedenkplatte für Gratiens Eltern, deren Tod sie so begrüßt hatte. Ein Schauer des Entsetzens ließ sie zittern. Sie fühlte, wie sich Schlimmeres als simple Stricke um sie schloss!
14. Kapitel
Ich weiß, das Warten ist schlimm. Aber die Nacht kommt nicht schneller, wenn du auf das Meer hinausstarrst, als wolltest du ihm deinen Willen aufzwingen!«
Ysobel schüttelte den Kopf, wandte sich aber nicht zu Jos de Comper um, den sie hinter sich spürte. »Sie haben mich das Warten gelehrt«, murmelte sie und dachte an Mutter Elissa, die mit so strenger Hand über Sainte Anne geherrscht hatte.
Damals im Kloster war sie anfänglich wie betäubt gewesen. Sie hatte gedacht, Gratien würde sich besinnen, und täglich auf den Boten gehofft, der sie nach Hause holen würde. Als er nicht kam, richteten sich ihre Hoffnungen auf eine Botschaft, einen Brief, eine Nachricht. Ihr Bruder wusste doch, dass sie des Lesens und des Schreibens mächtig war. Aber die Jahre vergingen, und aus dem Warten wurde Hoffnungslosigkeit. Die verzweifelte Erkenntnis, dass sie für die Menschen in Locronan nicht mehr existierte.
Jetzt war es Gratien, der nicht mehr existierte, und sie erzitterte beim Gedanken daran, dass es nun bei ihr lag, die Ehre der Locronans zu retten. Aber lieber wollte sie den Tod finden als zu scheitern! Sie bemühte sich, das Schluchzen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Regen, Sturm und einfache Vorsicht geboten, dass sie ihr Versteck in den Klippenhöhlen verließen. Es blieb ihnen nichts übrig, als hier zu warten.
Em kurzer Ausflug Jos’ hatte ergeben, dass ein Teil der Söldner auch Ploaré und die anderen Dörfer in ihrer Gewalt hatten. Die Fischer, Händler und
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