Ysobel – Das Herz aus Diamant
einzigen Silbe zu belügen, du würdest es bitter bereuen!«
Thilda de Locronan hing halb ohnmächtig in Gordiens festem Griff. Das einzige, was sie bei Bewusstsein hielt, war ihr abgrundtiefer Hass auf Ysobel. In ihrem Wahn schien ihr, als ob die Schwester ihres Gatten auch für jene Demütigungen und Schmerzen verantwortlich war, die ihr jetzt zuteil wurden.
»In der Burg«, krächzte sie. »Sie ist nicht unter den Frauen am Brunnen. Sie versteckt sich irgendwo im Haus und lauert vermutlich auf eine Gelegenheit zur Flucht! Ihr müsst die Kammern und Ecken durchsuchen, am besten beginnt Ihr damit im alten Nähzimmer ...«
»Du wirst mir persönlich den Weg zeigen!«, befahl der Herzog schroff. »Gordien! Nimm zwei vertrauenswürdige Männer! Wir wollen nicht, dass uns das Kätzchen entwischt. Ich habe eine Menge mit ihm vor ...«
Der Schmerz tobte durch ihren gequälten Körper, aber Thilda de Locronan setzte rachsüchtig einen Schritt vor den anderen. Sie würde nicht zulassen, dass Ysobel entkam, und wenn es das Letzte war, was sie in diesem Leben tat!
4 Siehe »Jorina – Die Jade-Hexe« von Marie Cordonnier, Band 18197.
13. Kapitel
Noch ein Geheimgang?«, raunte Jos de Comper, als Ysobel auf die halbrunde, versteckte Pforte am Ende des Flures deutete.
»Unsinn, nur der überdeckte Gang, der es dem Burgherrn und seiner Familie erlaubt, trockenen Fußes die Kapelle zu erreichen. Man könnte meinen, Ihr habt noch nie eine Festung wie diese gesehen!«
Sie ahnte nicht, dass sie mit dieser Bemerkung genau ins Schwarze getroffen hatte. Jos de Comper stammte aus einer edlen, aber armen Familie, und die Burg, in der seine Brüder herrschten, wäre in Locronan allenfalls als Vorwerk geduldet worden. Dafür war sie mit Sicherheit besser gepflegt als Ysobels stolze Festung. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Jos überall Spuren der Vernachlässigung. Ausgetretene Treppen, bröckelnde Ecksteine und Fensterhöhlungen, die einfach mit Brettern vernagelt worden waren. Es verlängerte das Sündenregister des verstorbenen Barons, dass er mit einem so prächtigen und altehrwürdigen Bau nicht sorgsamer umgegangen war.
Der Ritter schwankte zwischen Verärgerung und jener dummen Eifersucht, deren er einfach nicht Herr wurde. Diese Eifersucht führte dazu, dass er sich an den Fehlern des Barons förmlich festbiss.
»Bückt Euch«, kommandierte Ysobel jetzt. »Man kann sonst unsere Gestalten durch das Maßwerk erkennen. Ich hoffe nur, dass dieses Gesindel der Kapelle zu allerletzt Aufmerksamkeit schenkt!«
Er behielt seine Zweifel für sich. Kelche, Kerzenleuchter und kostbare, juwelenbesetzte Kreuze waren keine Seltenheit in den Bethäusern der Edelleute. Reiche Beute für Söldner, die keine Skrupel kannten und keine christlichen Gebote. Jeden Schatten und jede Nische ausnutzend, war es ihnen bisher gelungen, den Schurken aus dem Wege zu gehen, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Burg so groß und verwinkelt war. Ordentlich geführt und ausgerüstet konnte sie einer Belagerung vermutlich ewig standhalten und problemlos einer respektablen Streitmacht Platz bieten.
›Heilige Anna, hilf!‹ flehte Ysobel im Geheimen, ehe sie die schmale Pforte öffnete, welche auf die Galerie führte, von der aus die Damen des Hauses Locronan der Messe beiwohnen konnten, ohne sich unter das Gesinde mischen zu müssen. Hier knieten sie auf hölzernen Betstühlen, um nicht auf den quadratischen Steinen zu frieren, die den Boden der Kapelle bildeten. Sie schlüpfte lautlos durch den Spalt der Tür und bedeutete Jos mit einer Handbewegung, ihr ebenso geräuschlos zu folgen.
Die Vorsicht war unnötig. Das kleine Gotteshaus lag düster und verlassen im Dämmerlicht des Regentages, das durch die schmalen Fensterschlitze fiel. Kein ewiges Licht brannte, kein Altartuch bedeckte den steinernen Katafalk unter dem schlichten Steinkreuz. Hätte nicht ein uralter Hauch von Weihrauch und Kerzenwachs in der Luft gelegen, Jos hätte sich gefragt, ob er sich wirklich in einer Kapelle befand.
Doch nach und nach übertrug sich die besondere Atmosphäre des Kirchleins auch auf ihn. Das Gefühl, nicht länger allein zu sein, wurde so stark, dass er die Augen verengte. Er beugte sich über die Balustrade, aber das rechteckige Steingeviert lag völlig leer unter ihm.
Er sah, dass Ysobel das Kreuzzeichen schlug und mit den Fingerspitzen über einen reichgeschnitzten Betstuhl strich, von dem er nicht ahnen konnte, dass es der ihrer Mutter gewesen war. Ihn
Weitere Kostenlose Bücher