Ysobel – Das Herz aus Diamant
ab. Wie Jos wohl aussehen mochte, wenn er die Kleider eines Edelmannes trug? Richtige Lederschuhe, die engen Hosen, ein Samtwams mit Kette, Federn an der Kappe und all den modischen, glitzernden Schnickschnack, der an Gratien stets ein wenig unglücklich gewirkt hatte?
Wenn sie nur endlich ihre Gedanken bei den Dingen halten könnte, die wirklich wichtig waren! Sie würde noch genügend Zeit haben, sich an Jos de Comper zu erinnern. Jede Linie seines Antlitzes nachzuziehen, von der winzigen kleinen Kerbe in seinem Kinn bis hinauf zu den geschwungenen dunklen Brauen. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun, als einen Abschied zu betrauern, der noch nicht einmal stattgefunden hatte. Das Leid würde früh genug beginnen.
Sie tastete sich lautlos vorwärts, geleitet von jenem eigenartigen modrigen Geruch, der leeren Weinfässern anhaftete, die von keinem gewissenhaften Kellermeister gesäubert wurden. Gratien hatte sich lediglich darum gekümmert, diese Fässer leer zu trinken. Nichts sonst hatte ihn interessiert, obgleich es einmal Zeiten gegeben hatte, in denen sogar die Könige der Bretagne den Wein schätzten, der in diesen Gewölben so sorgsam gelagert worden war.
Der Schimmer einer Pechfackel im eisernen Wandhalter machte den feuchten Gang schemenhaft sichtbar. Ysobel verharrte mitten in der Bewegung, als sie einen Mann rülpsen hörte. Jos legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. Die Wache.
Natürlich. Weshalb hatte sie nur angenommen, diese Männer würden ebenfalls im Dunkeln lauern? Ein vorsichtiger Blick um die Biegung der Mauer zeigte, dass es sich um zwei vierschrötige, bewaffnete Kerle handelte, die auf einer hölzernen Bank lümmelten. Die Beine weit ausgestreckt, die Schwerter müßig neben sich, die Dolche im Gürtel. Sie teilten den Inhalt eines Weinschlauches, und die abgenagten Knochen auf dem Boden deuteten darauf hin, dass die Bewohner des Hühnerstalles diesen schrecklichen Tag ebenfalls nicht unbeschadet überlebt hatten.
Was sollten sie tun? Ratlos wanderte Ysobels Blick zu Jos, der ihr bedeutete, zu warten und sich ruhig zu verhalten. Sie sah schemenhaft, dass er die Laterne abstellte und sich vergewisserte, dass sein Dolch griffbereit im Gürtel steckte. Er würde doch nicht kämpfen wollen? Nicht mit diesen beiden Kolossen, die eher Tieren als Menschen glichen.
Sie dachte gar nicht daran, im sicheren Dunkel zu bleiben, als er sich in Bewegung setzte. Sie huschte ihm nach und wurde Zeugin, wie er, gleich einem harmlosen Spaziergänger, auf die beiden Wächter zuschlenderte und im Dialekt der einfachen Leute von Ploaré ein wenig schwerfällig sagte: »Was treibt ihr da? Ratten fangen? Ein mühseliges Geschäft, während oben der Wein in Strömen fließt und die Tische sich biegen. Oder wollt ihr die Weiber etwa ganz für euch alleine haben ...«
Ysobel erschauerte. Sie konnte nicht glauben, dass Jos dieses gemeine Lachen ausgestoßen hatte, aber es trug offensichtlich dazu bei, die beiden anderen davon zu überzeugen, dass er zu ihnen gehörte.
»Nur kein Neid, Kamerad!«, hörte sie einen der Männer antworten. »Der alte Wolf wird dir persönlich die Eier herausreißen und sie dir ins Maul stopfen, wenn du dich an diesen Engelchen hier ver ...«
Er brach ab, unterbrochen von einem knirschenden, seltsamen Reißen, das Ysobel noch nie gehört hatte. Sie vergaß alle Vorsicht und sah gerade noch rechtzeitig um die Ecke, um Zeuge zu werden, wie Jos die beiden Galgenvögel am Wamskragen packte und mit voller Wucht an den Köpfen zusammenstieß. Während sie noch ächzten, ließen seine Hände los, schossen blitzschnell nach oben und sausten wie das Beil eines Henkers mit der eisenharten Kante in den Nacken der beiden fallenden Söldner. Die Männer sackten in sich zusammen. Lumpenpuppen gleich rutschten sie von der Bank zu Boden. Ihr Weinschlauch klatschte daneben.
Ysobel staunte mit offenem Mund. Nicht nur, dass sie die eindrucksvolle Wirkung dieses Angriffs würdigen musste; so wie die beiden in der Weinpfütze lagen, sah es auch ganz danach aus, als ob sie betrunken ihre Pflicht vernachlässigt hätten. Die Beulen auf ihrer Stirn konnten ebenso gut beim Sturz entstanden sein, und eine andere Wunde war mit bloßem Auge nicht zu entdecken.
»Das habt Ihr gut gemacht!«, gratulierte sie ihm, und Jos schoß mit erhobenen Fäusten herum. Im letzten Moment erkannte er, dass es seine lästige Liebste war, die ihn da lobte. Dass sie einmal mehr seinen Anweisungen nicht gehorchte, entlockte ihm
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