Ysobel – Das Herz aus Diamant
Rätsel. Jos hatte ihr gesagt, dass es um so leichter sein würde, je weiter sie fort waren, ehe ihre Flucht entdeckt wurde, und sie drängte den Trupp schon aus diesem Grunde energisch vorwärts.
»Sie haben dich überall gesucht«, raunte Jeanne währenddessen aufgeregt. »Die Herrin hat ihnen gesagt, dass du fehlst. Ich hab’ gesehen, dass sie sogar die Kapelle aufgebrochen haben. Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr, weil sie uns in diesen Keller gesteckt haben. Ich hab’ zur Mutter Maria gebetet, damit sie dich nicht finden!«
Ysobel drückte stumm die magere Schulter des Mädchens. Wie typisch von Dame Thilda, dass sie nicht einmal in dieser Situation ihren Hass auf die Schwester ihres Mannes vergaß. Wo steckte die Herrin überhaupt?
»Ich weiß es nicht«, wisperte Jeanne. »Anfangs war sie bei uns, aber dann ist sie ins Haus geführt worden. Später war sie in der Kapelle dabei, aber danach hab’ ich sie nicht mehr gesehen. Vielleicht haben sie sie dort eingesperrt!«
Es wird ihr dort arg an der gewohnten Bequemlichkeit fehlen, dachte Ysobel mit tiefer Genugtuung, die jedes Mitleid ausschloss. Das Unglück, das Locronan heimgesucht hatte, war allein Thildas Schuld. Sie würde keine Hand für dieses Weib rühren.
»Wo bleibst du?« Jos winkte ihnen ungeduldig. »Wenn du deine geplante Verabredung mit Jean de Montfort nicht versäumen möchtest, dann solltest du nicht länger säumen, Mignonne!«
Er hatte es eher scherzhaft gemeint. Er wollte sie auf andere Gedanken bringen, ablenken, aber Ysobel blieb wie vom Donner gerührt stehen. Das Kreuz von Ys! Sie hatte es völlig über den Ereignissen vergessen. Sie konnte Locronan nicht verlassen, ohne es aus seinem Versteck zu nehmen!
»Geh mit ihnen, Jeanne«, wisperte sie in das Ohr der Küchenmagd. »Ich habe etwas vergessen. Ich muss es dringend holen!«
»Gütiger Himmel, bist du vollends närrisch geworden?« Jos de Comper setzte ihr nach, als er bemerkte, dass sie die entgegengesetzte Richtung einschlug. »Was tust du? Wohin willst du jetzt?«
Ysobel blieb stehen. Der Fackelschein tanzte über seine edlen Züge und verwandelte seine klaren Sommeraugen in dunkle Nachtteiche.
»Ich habe keine Zeit, es zu erklären«, murmelte sie hastig. »Geht voraus, ich komme nach! Ihr habt mein Wort darauf!«
»Hat es wieder etwas mit deinem verdammten Seigneur zu tun?«
»Vertraut mir! Verschwendet keine Zeit!«
Wie typisch für sie, in einem solchen Moment so zu reagieren. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst, kleiner Dickschädel!«, weigerte sich Jos de Comper.
»Ich komme zurück. Ich gebe Euch mein Wort«, wiederholte Ysobel. »Bis Ihr den Strand erreicht habt, bin ich garantiert bei Euch! Traut mir wenigstens ein einziges Mal!«
Ehe er erneut den Mund öffnen konnte, spürte er den heftigen, schnellen Kuss, den sie auf seine Lippen drückte, dann war sie wie ein Spuk verschwunden.
»Verdammt!« Jos machte Anstalten, ihr zu folgen, aber Jeanne packte seine Hand.
»Wir müssen tun, was sie sagt!«, erklärte sie ernsthaft. »Ysobel weiß immer, was sie tut, und sie hält stets ihr Wort. Wenn sie sagt, dass sie kommt, dann kommt sie auch. Hab’ keine Angst, sie ist keine Lügnerin!«
Jos schluckte angestrengt. Die Kleine hatte recht, aber sein Herz sagte ihm, dass Ysobel sich in Gefahr begab, dass er sie nicht gehen lassen sollte. Aber – wie sollte er sie jetzt noch finden in diesem Gewirr von Gängen, Kammern und Gassen? Wenn sie sich vor ihm verbergen wollte, hatte er keine Chance.
»Dieser verwünschte, eigensinnige Weibsteufel«, fluchte er entgegen seinen eigenen Anweisungen laut und erbittert. »Ich werde sie über das Knie legen und mit dem Riemen versohlen, wenn sie wieder da ist!«
Jeanne gluckste. »Das würdest du dich nicht trauen, Fischer! Ysobel ist etwas Besonderes!«
Jos stieß einen lautlosen Fluch aus, hob die Fackel und folgte mit der Magd den Leuten von Locronan. Es hatte keinen Sinn, es abzustreiten. Jeanne sagte die Wahrheit. Ysobel war etwas Besonderes, und er vermisste sie schon jetzt. Wenn sie dieses verfluchte Abenteuer ohne Schrammen überstanden, dann würde er dafür sorgen, dass sie nie wieder einen Schritt ohne ihn unternahm!
Sie waren noch nicht allzu lange um die nächste Biegung verschwunden, als sich die beiden Männer vor dem offenen Kerker zu rühren begannen. Ächzend und langsam nur, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihre Besinnung zurückfanden!
16.
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